Biest: Thriller (German Edition)
daraus seine eigenen Schlussfolgerungen gezogen? Verriet Yael ihm den Rest? Schlief er immer noch mit ihr? War sie vielleicht jetzt gerade bei ihm? Plötzlich wurde ihr schlecht. Sie blickte auf. Will Thater hatte mittlerweile das Zepter übernommen und beantwortete Rückfragen des Energiekommissars, der beinahe mit jeder zweiten Vokabel vollkommen danebenlag. Sie erinnerte sich, dass der ansonsten sicherlich respektable Politiker es mit seinen Englischkenntnissen sogar zum Youtube-Star gebracht hatte. Bis ihm dieser unsägliche deutsche Außenminister die Show gestohlen hatte. Will redete äußerlich ruhig und gefasst, aber Solveigh wusste anhand seiner Körpersprache, dass er innerlich kochte. Je mehr Wortmeldungen der Energiekommissar aufrief, die meist unisono mit den wirtschaftlichen Folgen begannen und mit einer Menge Fragen zu ihren Untersuchungsmethoden endeten, desto klarer wurde Solveigh, dass sie keine Chance hatten. Die EU würde keine Meiler abschalten, schon gar nicht die neuen, leistungsstarken, die besonders gefährdet waren, weil sie von Computerprogrammen gesteuert wurden. Maximal wäre wohl das Herunterfahren der alten, analogen Meiler als Kompromiss zu erzielen. Die hatten auch schon während des Atom-Moratoriums nach Fukushima stillgestanden – weitestgehend ohne Folgen für die Stromversorgung. Aber in dieser Situation würde genau das überhaupt nichts bewirken. Die Fronten verhärteten sich immer mehr, bis Will Thater schließlich entschied, dass die Sache gelaufen war. Er legte den Stift beiseite und schob die Unterlagen zusammen. Sie hatten verloren. Blieb nur zu hoffen, dass sie unrecht hatten mit ihrem Pessimismus oder dass das Computervirus nicht funktionierte. Eine Menge Variablen für Solveighs Geschmack, und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, glaubte sie nicht daran. Im Kopf ging sie noch einmal die von Dominique als besonders gefährdet eingestuften AKWs durch. In Deutschland waren vor allem Neckarwestheim, Philippsburg und Isar II betroffen, in Schweden Forsberg und Oskarshamm, dazu nahezu alle französischen. Die Sicherheitsfirma. Isar II, schoss es Solveigh in den Kopf. Marcel ist in München. Ich muss ihn warnen. Noch einmal klickte sie auf das Icon für die Textnachrichten. Marcel wurde nicht mehr als »anwesend« angezeigt. Er war Offline. Sie musste es trotzdem probieren:
@MarcelL #private, 16 .Januar 2013, 15.28 Uhr
Du musst da weg. SOFORT. Pack deine Sachen und verschwinde da, am besten nach Irland. Erklärung folgt.
KAPITEL 35
St. Petersburg, Russland
16. Januar 2013, 20.14 Uhr (am Abend des selben Tages)
Nachdem sie die Nummer angerufen hatten, die Majas Großmutter ihr gegeben hatte, war alles ganz schnell gegangen. Die Frauenstimme hatte versprochen, dass sich jemand bei ihnen melden würde, und keine halbe Stunde später hatte das Telefon tatsächlich geklingelt. Mit sehr ruhiger Stimme war ihnen von dem anonymen Anrufer nahegelegt worden, den Zug an der übernächsten Haltestelle zu verlassen und sich für einige Tage eine Pension zu suchen, die sie bar bezahlen sollten. Maja und Dimitrij hatten sich daran gehalten, ebenso wie an die Anweisung, möglichst wenig Zeit außerhalb des Hotelzimmers zu verbringen und den Namen der Pension von einem neutralen Telefon durchzugeben. Am Morgen des achten Tages bekamen sie in ihrem Zimmer einen weiteren Anruf. Die Stimme verlangte von ihnen, einen Wagen zu mieten und nach St. Petersburg zu fahren, sie nannte ihnen außerdem eine Adresse, an der sie um 22.00 Uhr desselben Tages erwartet würden.
Als sie das sogenannte Venedig der Nordens nach zwölf Stunden Fahrt erreichten, herrschte dichtes Schneetreiben, und sie beschlossen, den Wagen am Stadtrand stehen zu lassen und mit dem Bus weiterzufahren. Ziel war eine Adresse im Admiraltejski, einem Stadtviertel südlich der Newa. Als Maja und Dimitrij aus dem Bus stiegen, blickten sie sich immer noch nach möglichen Verfolgern um. Die Paranoia war trotz der relativ ruhigen Tage in der schäbigen Pension nicht verschwunden. Obwohl es nicht mehr schneite, hatten die frostigen Temperaturen St. Petersburg fest im Griff, und die vorbeifahrenden Autos schleuderten ihnen Schneematsch gegen die Hosenbeine. Es war mittlerweile fast Viertel vor zehn, und Maja drängte sich mit ihrem dicken Mantel gegen ihn. »Die Große Choralsynagoge«, flüsterte sie mit ausgestrecktem Arm. Dimitrij schnappte sich ihre beiden Gepäckstücke, und sie liefen gemeinsam in Richtung der roten Steinmauer,
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