Bilder Aus Dem Berliner Leben
mehr zu rechnen haben. Und an einem solchen Nachmittage bin ich gern einsam und suche die Gegenden unsrer Stadt auf, in denen ich meinen Gedanken nachhängen kann. Im Gewühl ihrer Straßen verläßt mich dieses stille Herbstgefühl nicht, wenn, langsam und unbemerkt, ein welkes Blatt vor mir auf das Steinpflaster niedertaumelt und ein Streifen Abendlicht die Fronten der hohen Häuser vergoldet, bis wo sie sich im aufsteigenden Dufte der Dämmerung verlieren. Mir übertönt er nicht, dieser Lärm, das Rollen der Wagen, und der hastige Schritt der Menschen, die feierliche Stimme, die vom Werden und Vergehen spricht; ich höre sie überall, hier, in der nimmer rastenden Stadt, wie ich sie einst draußen gehört habe auf der Heide, wo das große Schweigen nur unterbrochen und begleitet wird von dem Murmeln der Quelle, dem Rauschen des Windes und dem Abendliede der Lerche. Mich stört das Werk von Menschenhand nicht: nur um so nachdrücklicher predigt es mir die große Lehre; mich verletzt nicht Eitelkeit, und mich reizt nicht der Triumph eines Tages. Ich habe mein Los mit der Allgemeinheit geworfen und mir nur das Recht vorbehalten, zuweilen nachdenklich stehenzubleiben – mir ist in dieser gewaltigen Stadt mit ihren Hundert- und abermal Hunderttausenden so wohl wie in der Heimat. Was ich dort, vom Berge herab im Anschauen der Abendlandschaft erfahren, das wiederholt sich hier für mich noch täglich. Daß der einzelne nur im beseligenden Gefühle des Ganzen Erfüllung findet und daß es dort die gebundene Natur, hier die regeFülle des menschlichen Lebens ist, macht dies Gefühl nur stärker, nicht anders. Es ist kein Traum mehr, es ist die Wirklichkeit ergreifender oder erhebender Schicksale, eine lange Kette von Wandlungen, Untergängen und Neubildungen, und indem ich ihnen weit hinaus in die Jahrhunderte folge von dem beschränkten Platz, an dem ich stehe, werd ich ein Teil der Geschichte selber, verkehre mit den Personen und den Dingen, die vor mir gewesen, und kehre bereichert zu denen zurück, die mit mir sind.
Unter solchen Betrachtungen hab ich heute meinen Weg nach dem Schloßplatz und Lustgarten zurückgelegt, der unter der Herbstabendbeleuchtung doppelt reizvoll erschien, alles wie von einem rosigen Schimmer umsponnen. Da stand auch sie noch, die altersgraue Schloßapotheke, aber von ihren Bewohnern schon verlassen und nichts von der gewohnten Tätigkeit mehr darin zu sehen. Verödet hob sie sich hinter dem weißen Bretterzaun, der sie – wie wenn er unsrem Blicke das melancholische Werk der Vernichtung entziehen wolle – rings umgibt. Die alten Bäume, welche den anheimelnden Bau, die fromme Stiftung Katharinas, so lange beschattet, rauschten noch, das Laub vom frühen Herbste schon etwas vergilbt; und hier an einem Bäumchen, einem Ebereschenbäumchen, glühten die roten Beeren. Mehrere Fenster waren aufgebrochen, andre verhängt, und über das ganze Gebäude zog sich jenes Grau von Baustaub, welches so traurig stimmt, wenn ein ehrwürdiger, liebgewordener Anblick darunter verschwinden soll. Hinter der Apotheke, nach dem Wasser zu, waren die Nebengebäude niedergelegt, so daß ich den Hauptbau in seiner ganzen Gestalt, mit Erkern und Giebeln und steinernem Zierat noch einmal sehen konnte – wer weiß, zum letzten Mal; und um Grün und Bauschutt und Trümmerhaufen spielte das Licht derAbendsonne. Noch einmal ging ich über die Sechserbrücke, die nun auch bald nicht mehr sein wird, und gedachte der schönen Mondscheinabende, in denen ich dieses Stück Gotik in Berlin gern gesehen, wenn das freundliche Licht aus den hohen Gewölben so magisch eigentümlich in die Schatten unter den Bäumen fiel und als ich vorwärts blickte, nach der Burgstraße hin, da war keine Kriegsakademie mehr, keine Kleine Burgstraße mehr, kein Durchgangsbogen mehr, keine Heiligegeistgasse mehr – nur noch Ruinen und Brettergerüste und Baukarren, die sich hin- und herbewegten, und Maurer, die mit Spitzaxt und Brecheisen arbeiteten.
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Zwölf Wochen nachher, ein Tag spät im November 1885; kalter Nebel in der Luft, Reif in den Bäumen, die sich weißlich gegen das dunklere Gemäuer des Schlosses abheben. Gleich vorn an der Burgstraße, nach der Königstraße hin, eine Holztafel mit der Inschrift in großen Buchstaben: »Für Wagen gesperrt« – keine Cavalierbrücke mehr, keine Schloßapotheke mehr, nur noch ein Mauerrest, wo sie gestanden. Auch kein Joachimsthalsches Gymnasium mehr; wo ehemals die alten
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