Bilder bluten nicht
Hinterzimmer, dann in den Laden. Dann wieder in das Hinterzimmer. Octave Miret würde keine heiße Ware mehr verschieben. Chassard Maurice würde nicht mehr für sein tägliches Brot verlogene Liebe runterschmalzen müssen auf Körpern, deren Haut Elisabeth Arden nicht mehr aufmöbeln konnte. Er würde sich auch nicht mehr den Launen schmieriger Griechen aussetzen müssen. Zwei blaue Bohnen für jeden von ihnen, und ein Haufen Probleme waren gelöst.
Ein Brief sah aus Mirets Tasche. Ich nahm ihn. Gewöhnlicher Umschlag. Gewöhnliches Briefpapier. Gewöhnlicher Text:
Monsier,
entschuldigen Sie die Verzögerung, die uns gewisse Umstände, die nicht in unserer Macht stehen, bei der Lieferung unserer Ware aufnötigen. Trotz der Ereignisse versichern wir Ihnen, daß die Ware geliefert wird. Mit vorzüglicher usw.
Unterschrift unleserlich. Gewöhnlich in der Form, aber ganz und gar nicht alltäglich. Dieser Brief hier sollte aller Wahrscheinlichkeit nach dafür sorgen, daß Miret und Corbigny nicht ungeduldig wurden. Mit der Maschine geschrieben. Mit einem Finger. Haufenweise Tippfehler. Ich steckte den Brief ein. Dann sah ich mir noch mal meine beiden Helden an, Miret und Chassard, so als wäre das eine gelungene Theatervorstellung. Seht ihr, Freunde? Wer nicht hören will, muß fühlen. Nur ehrenwerte Leute werden nicht getötet. Zum Beispiel Nestor Burma. Burma, den... Plötzlich bekam ich Angst. Verflixt nochmal! Was tat ich hier? Man hatte mich geschont, aber man hatte mir damit einen Bärendienst erwiesen. Möglicherweise hatte man die Polizei angerufen. In dieser Geschichte wurde die Polizei oft angerufen. Hau ab, Nestor. Und zwar schnell. Ich betrachtete mich im Spiegel und fand mich gar nicht schön. Ich hatte Blut auf dem Hemdkragen, auf den Revers des Mantels, auch im Gesicht. Hatte mich wohl vollgeschmiert bei dem Versuch, wieder auf die Beine zu kommen. Keine Zeit, auch nur so ’was Ähnliches wie Toilette zu machen. Hau ab. Und zwar schnell. In einem Wandschrank fand ich einen weiten Dufflecoat, den ich über meine Klamotten zog. Ich schlug die Kapuze über meine Augen, löschte alle Lichter und trat auf die Galerie Montpensier hinaus. Das Palais-Royal lag immer noch in qualvoller Stille da.
Ich kam nicht weit. An der Place du Théâtre-Français verließen mich meine Kräfte. Ich lehnte mich an einen Stützpfeiler unter dem Medaillon de Mounet-Sully. Wenige Meter weiter herrschte lärmender Verkehr. Das Hupen der Autos dröhnte schmerzhaft in mir. Das Hämmern der Absätze hallte in meinem Schädel wider wie auf einem Trommelfell. Das Tohuwabohu überflutete mich, bald nah, bald weiter weg, schrecklich unangenehm, schwankend. In meinen Ohren rauschte es. Mein Blick verschleierte sich. Mir ging es genauso dreckig wie Müsset am anderen Ende des Säulengangs, zerschlagen, schlapp, erschöpft wie er; aber er ist in Stein gehauen, und er hat seine Muse, die ihm beisteht, seine Muse, in starrer Haltung, wie die Krankenschwester auf der wohlbekannten Reklame für Aspirin. Seine Muse... Aspirin...Hélène. Verdammt nochmal! Ich durfte nicht aus den Latschen kippen. Nicht jetzt. Und nicht hier. Ich wollte nicht in die Agentur gehen. Dort könnte Faroux sein, in der Agentur. Wußte ich’s? Ich wollte kein Taxi nehmen. Ich wollte nicht... Verflixt nochmal! Alle diese Passanten! Am Ende würden sie noch meinen schlimmen Zustand bemerkenund die Flics rufen, diese mitfühlenden Seelen. Ich riß mich zusammen. Hundert Meter, Nestor. Das ist keine Marathonstrecke! Geh noch hundert Meter. Ich ging an den Start für meine hundert Meter im Schneckentempo!
Rue de Valois. Das Hotel von Albert, das Hotel von Lheureux, dem Glücklichen. Oh, ich Unglücklicher! Zweimal setzte ich an, um durch die Tür zu kommen, und dann stieß ich beim Hineingehen gegen den Pfosten. Ich klammerte mich an die Theke, hinter der Albert mich mit offenem Mund anglotzte. Vor meinen Augen legte sich ein roter Schleier: „Hélène Chatelain“, röchelte ich.
„Sieh an! Sie schon wieder, M’sieur Burma?“
Seine Stimme war weit weg, drang mit Mühe durch fünfzehn Kilometer dicke Watte.
„Schnauze. Hélène Chatelain.“
„Oh! Was ist denn los?“
„Hélène Chatelain, Herrgott nochmal! Das Zimmer von Hélène Chatelain.“
Sehr weit weg begann ein sarkastisches Lachen, rollte heran und explodierte in meinen Ohren, wobei mir fast das Trommelfell platzte.
„Was ist Ihnen passiert? Man hat Sie übel zugerichtet, könnte man
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