Bilder von dir: Roman (German Edition)
um eigene Katastrophen zu erleben.
Gott sei Dank war sie heil: betrunken, aber im Grunde unverletzt. Nie würde er vergessen, wie sie in der Notaufnahme ausgesehen hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass Mona am Empfang blieb, damit er Oneida allein sehen konnte. Mona war zwar eine wohlmeinende Nachlassverwalterin, doch Arthur musste das Mädchen, von dem er nun wusste, dass es Amys Tochter war, sehen und empfinden, was auch immer er das erste Mal ohne Einmischung empfinden würde. Er wollte keinen Kontext, keinen Filter, keine erklärende, unauffällige Plakette rechts unten von Oneida mit der Angabe, wer die Schöpfer dieses speziellen Werks waren:
Amy Henderson & Ben Tennant
Oneida Jones circa 1992
Haut und Blut auf Knochen
Und so sah er sie: einen ganz in Schwarz gekleideten Geist. Einen zusammengefallenen Stern inmitten des Gewusels einer Notaufnahme am Freitagabend, geformt wie Amy, ohne Amy zu sein, erschöpft und benebelt. Ein halb erwachsenes Baby. Jetzt schlief sie fest neben ihm, ein geselliger Komet, der im Dunkeln seine Spur herab auf die Route 81 zog. In jeder Kunsttheorie, mit der Arthur sich je beschäftigen musste, im Kern jedes Essays über Erfahrung und Subjektivität, den er um drei Uhr morgens seiner Schreibmaschine abgerungen hatte, hatte Arthur die üblichen Theorien über das ungeübte Auge wiedergekäut: der Blick, der Mythos der Unparteilichkeit; dass man nie etwas sehen konnte, ohne dadurch auch sich selbst zu sehen.
Was vermutlich der Grund dafür war, weshalb er Oneida ansah und dachte: Ich hätte ihr Vater sein können .
Aber wie, in welcher Welt?, fragte er sich. Und doch – jede Welt war möglich. Und jeder Unfall konnte passieren.
Sein Urlaub war vorbei. Am Samstag wurde er früh wach und zog die erschreckende Möglichkeit in Betracht, seine Eltern anzurufen, machte stattdessen jedoch sein Zimmer sauber. Sein Zimmer – wohl eher seine Krankheit. Harryhausen war von diesem Exorzismus sehr angetan und hockte sich auf die Lehne des Zweiersofas in einen Sonnenstrahl, von wo sein massiger Leib sich in pelzigen Falten über die Seiten ergoss und er schnurrend sein Wohlgefallen kundtat. Arthur löste die Wäscheleine und die mit Büroklammern befestigten Karten und die mit Perlen besetzten Bänder. Er baute die Dioramen auseinander und bedauerte es endlich doch, Chruschtschow an Monas Wand geklebt zu haben. Jede winzige Arbeit war eine Skizze, wie ihm klar wurde, ein Entwurf als Vorbereitung für das einzig echte Kunstwerk, das er in Jahren, das er jemals gemacht hatte: die Collage von Amy, die aufs Meer und ins Universum hinaustrieb. Das Beste, was er je geschaffen hatte, und zwei Zehntklässler der Highschool hatten es für ihr erschwindeltes Geschichtsprojekt benutzt.
Er hatte Amys Tochter bei einem Betrug geholfen.
Daran hätte Amy einen höllischen Spaß gehabt.
Jetzt begriff er auch, was geschehen war, als er die Collage zusammensetzte, konnte den Auslöser in seinem Gehirn benennen, der ihn dazu gebracht hatte, Mona um einen Kuss zu bitten. Mit der Collage begrub er Amy so, wie er als Kind einen Goldfisch begraben hatte: in einem Pappkarton mit ein paar Andenken, damit sie Gesellschaft hatte. Und der pinkfarbene Schuhkarton – er war nur ein weiteres Behältnis für ihren Leichnam, mehr Mausoleum als Museum. Arthur war dadurch daran erinnert worden, dass Amy mehr war als nur eine Reihe von Anekdoten und Erinnerungen, dass sie einen Körper besessen hatte, und dass er zu diesem Körper zurückmusste. Er würde sich damit so intim befassen müssen, wie er das mit den Teilen von ihr getan hatte, die aus Papier, Plastik und Zinn bestanden.
»Ich muss es wissen, Harry.« Er kratzte sich an der Brust. »Verdammt, Harry. Ich muss wissen, was sie mit ihrem Körper gemacht haben.« Dabei wurde ihm übel, und er würgte. Sich der Welt wieder bewusst zu werden, war Mord – jeder Teil von ihm hämmerte, jedes Stück von ihm war schwer wie Blei. Er legte die Teile von Amy zurück in den Schuhkarton: den rosa Affen, den grünen Schlüsselanhänger aus Acrylglas, die rubinroten Manschettenknöpfe, die Fotos vom Zuma Beach. Und
die Postkarte, die ihn zum Darby-Jones geführt hatte und die er am Freitagabend Mona hatte aushändigen wollen, als sie ihn dann aber stattdessen mit der Nachricht von Amys Tochter überraschte.
Er las die schlaufenreiche Handschrift seiner Frau noch einmal:
Mona Jones,
es tut mir leid. Ich hätte es dir sagen sollen. Du kanntest mich besser als alle
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