Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Kiefer.
Einer der Männer hatte inzwischen ein breites Brett über die Egge gelegt, der Geweihte stellte sich darauf und zog seine Gefangene am ausgestreckten Arm hinter sich her. Er setzte sie auf die Trapez-stange und ließ sie dann los. Sie klammerte sich instinktiv an den Seilen fest, um nicht nach hinten herabzustürzen, und stieß einen erschreckten Schrei aus, als sie plötzlich nach oben gezogen wurde.
Man hielt das Trapez auf der Höhe des Käfigs an, in grel es Schein-werferlicht getaucht.
Janos Carazzo war offenbar zugleich Regisseur und Kameramann, denn er setzte sich auf den Wagen, um die Kamera auf die Szene zu richten und die Einstellung zu regulieren.
Sandrine war etwas zurückgetreten. Offenbar beachtete sie im Augenblick niemand. Konnte sie nicht vielleicht Nutzen daraus ziehen? Sie warf einen Blick in Richtung zur Tür und zuckte zusammen. Seit wann war Manuel wieder hier? Er hatte sich in einen Winkel gedrückt und offenbar darauf gewartet, dass sie ihn bemerke. Mit komplizenhaftem Augenzwinkern winkte er sie zu sich heran.
Sie zögerte. Wollte er ihr allen Ernstes helfen? Aber was konnte er schon für sie tun? Selbst wenn er sie mit nach draußen nähme, würden sie nicht weit kommen! »Es sei denn, er hat einen bestimmten Plan …«, überlegte sie. Aber sie bewegte sich nicht von der Stelle, weil sie gefesselt war von dem Schauspiel, das ihre Freundin bot: Mit dem Schwindel kämpfend, zerzaust und halb nackt klammerte die sich dort droben fest. Nein, sie durfte Gabriella jetzt nicht im Stich lassen. Vorhin schon, als sie sich so kräftig zur Wehr gesetzt hatte, hatte sie sich beschämt gefühlt von ihr und gedacht: »Die fürchtet sich nicht vor ein paar Schlägen. Ich dagegen habe mich sofort unterkriegen lasen, als der alte Mulatte mir eine scheuerte.«
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Der Bursche mit seinen schwarzen Locken wiederholte hartnäckig seine Zeichen. Vielleicht wollte er ihnen beiden helfen? Schuldete er schließlich der kleinen Italienerin nicht auch noch eine Gefälligkeit? Und wenn überhaupt, musste man jetzt etwas unternehmen: Die Männer waren beschäftigt damit, die Höhe des Käfigs auszu-richten, den Abstand der Trapeze, die Winkel der Scheinwerfer.
Alles geschah nach genauen Anweisungen Carazzos: Der war wohl ein echter Künstler.
Sandrine bewegte sich behutsam vorwärts und hatte gerade etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt, die sie von Manuel trennte, als die Tür der Halle sich öffnete. Sie merkte, dass sie wegen der ungewöhnlichen Ausleuchtung gar nicht registriert hatte, dass es drau-
ßen inzwischen dunkel war. Dragos trat herein. Er war beladen mit Flaschen und Essen und forderte mit gesenkter Stimme seinen Bruder auf, ihm behilflich zu sein. Als er das Mädchen in der Nähe seines Bruders sah, stockte er und warf diesem einen argwöhnischen Blick zu. Dann beugte er sich zu ihm und flüsterte ihm, sich vorsichtig umschauend, einige kurze Sätze ins Ohr. Das Geheimnis, das er ihm da offenbar anvertraut hatte, musste furchtbar sein, denn schlagartig wich alles Blut aus Manuels Gesicht.
Die beiden trugen Essen und Getränke weiter in das Lagerhaus hinein, in die Nähe der Lastwagenbatterien, deren Pole man inzwischen miteinander verbunden hatte. Sie kehrten ein paar leere Kisten um, die als Tische dienen konnten. Es zeichnete sich zwar kein Festmahl ab, aber man hatte sich Mühe gegeben.
Nun zog man die lange Leiter zurück, die Scheinwerfer erloschen, und einer der Helfer wickelte zwei Leinen von dem Pfeiler los. Sandrine stürzte vor, als das Trapez sich in kleinen Sprüngen herab-senkte. Sie half der Freundin, auf die Planke über der Egge herunterzuklettern, und schloss sie in die Arme – eine bedenklich schwankende Umarmung. Der Geweihte beeilte sich, ihnen zu Hilfe zu kommen und sie auf festen Boden zu schubsen.
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Sobald sie begriff, dass man nicht daran dachte, sie daran zu hindern, lief Gabriella rasch in das Labyrinth der Lagerhalle davon, um sich irgendwo zu verstecken. Es war ihr wohl nicht bewusst, dass von nun an keines ihrer Verstecke mehr Schutz bieten konnte. Sandrine wollte ihr folgen, doch Carazzo vertrat ihr den Weg.
»Ihr beide seid wohl dicke Freundinnen«, sagte er mit sichtlicher Befriedigung. »Das hat man mir bisher nicht gesagt. Das ist ja noch besser, sehr viel besser!«
»Was ändert das denn?«, fragte sie tonlos und wünschte sich erneut, lieber keine Antwort auf ihre Frage zu erhalten.
Er entgegnete, das ändere zwar nichts, es würde
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