Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
oder ein bestehendes Gesetz um einen entsprechenden Passus ergänzen, oder auch aus Dringlichkeitsgründen vorab eine Verfügung erlassen. Aber was auch immer geschehen muss: Im Geheimen lässt es sich nicht machen. Du hast jedoch die Notwendigkeit betont, vor der Öffentlichkeit selbst die Existenz solcher Snuffs zu verbergen. Ich wollte dich an diesem Punkt nicht unterbrechen, obwohl mir deine Argumentation bedenklich schien. Ich bin gerne bereit, darüber mit dir zu diskutieren, aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass du nicht wegen juristischer Ratschläge zu mir gekommen bist…«
Er beugte sich vor, um seinen Kaffee auszutrinken, ließ aber dabei seine Tochter nicht aus den Augen. Er dachte angestrengt nach.
Dann flackerte etwas in seinem Blick auf. »Du schleichst von Anfang an wie eine Katze um den heißen Brei, Kiersten! Das ist doch gar nicht deine Art…«
Sie legte einen großen, an Senator Murdstone adressierten Umschlag vor ihn hin mit einem Aufkleber ›Vertraulich! Nur vom 55
Empfänger zu öffnen!‹ Als Absender war darauf vermerkt: ›Oberster Gerichtshof Kanadas – Sekretariat Richter W.R. MacMillan‹.
»Darin wurde dieser Katalog verschickt«, sagte sie heiser.
Die Ohren sausten ihr, sie stand auf und ging an eines der Fenster. Die Silbertanne, die einst bis zum Fenster ihres Zimmers gereicht hatte, überragte nun das Hausdach. In der Fensterscheibe spiegelte sich ihr Vater. Er hatte einen Ellbogen auf ein Knie ge-stützt und eine Hand so vor die Stirn gelegt, dass sie seine Augen verdeckte. Seine Haltung verriet eine solche Niedergeschlagenheit, dass Kiersten sich sofort zu ihm umwandte. Ihr Herz klopfte, sie konnte nicht länger stehen und setzte sich ihm wieder gegenüber.
Er hob den Kopf, und sie beugte sich nach vorn, als habe sie einen plötzlichen Stoß in den Rücken bekommen. In seinem Blick war nichts von Not zu spüren, und seine Miene verriet keinerlei Verlegenheit. Aber in seinen Augen glühte ein dunkles Feuer, und sein Gesicht war geprägt von rätselhaftem Kummer. Er nahm nochmals das Foto von Murdstone und Kemal am Zürcher Flughafen in die Hand. Mit dem Mundstück seiner erloschenen Pfeife deutete er auf eine junge Frau, die im Hintergrund zu sehen war.
»Ich habe sie im ersten Augenblick nicht erkannt«, murmelte er.
»Wie auch immer, ich hätte an einen Zufall geglaubt. Doch jetzt…«
»Du kennst sie?«
»Sie arbeitet für Bastien, meine rechte Hand; Mona-Lisa Peres, eine Praktikantin von der Queen's University. Das ist seltsam …«
Kiersten hatte das Gefühl, an einer Zaubervorstellung teilzunehmen. Nichts war mehr so, wie es gerade einen Augenblick vorher noch geschienen hatte: Der alte Zauberer hatte aus seinem Zylinder eine Assistentin hervorgeholt und sie zur Verdächtigen gemacht. Sie fühlte, dass sie das dem Richter irgendwie übel nahm.
»Glaubst du, dass sie den Katalog verschickt hat?«
»Es wäre doch unter den gegebenen Umständen eine glaubhafte Annahme. Hältst du lieber an deiner ersten Vermutung fest?«
56
Sie biss sich auf die Lippen.
»Ich bitte dich, es ist schwierig genug! Versetz dich doch mal in meine Lage … Was hättest du denn gemacht?«
Er gewann Zeit, indem er ein Zündholz anriss und zunächst seine Pfeife neu anzündete. »Sich in deine Lage zu versetzen, war noch nie einfach«, antwortete er dann mit einem Anflug von Sarkasmus.
»Ich hätte es wohl so gemacht wie du, wäre gekommen, um offen darüber zu reden – aber du bist ein Risiko eingegangen…«
Kiersten schwieg, weil sie nichts zu antworten wusste. Ihre Gedanken beschäftigten sich jedoch schon mit dieser neuen Spur. Wer war diese Mona-Lisa Peres? Praktikantin, nun gut, aber seit wann?
Hatte sie Murdstone nach Zürich begleitet, war sie vielleicht seine Geliebte? Nein, denn dann hätte sie ihm den Katalog persönlich übergeben. Es sei denn … Richtig, es sei denn, sie hätte ihn mit der Post geschickt, um den Richter zu kompromittieren … Möglich, aber das würde wiederum bedeuten, dass der Senator seine Überwachung bemerkt hatte und davon ausging, dass die Sendung ab-gefangen würde. Alles ganz schön kompliziert! Gut, man musste Julien noch heute Abend informieren, sich morgen dann das Überprüfungsprotokoll dieser Peres beschaffen, sich mit Appelbaum verständigen… Von seiner Seite wären wohl kaum Schwierigkeiten zu erwarten, einer Telefonüberwachung würde er sicher zustimmen …
Wenn nicht auf Anhieb, würden drei Minuten Snuff sicherlich
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