Binding, Tim
mir gern die
grausigen Stellen im Bett vor, und ich musste lachen, weil ihre Lippen immer
ganz trocken wurden, ihre Stimme ganz leise, wenn Herzen rausgerissen und Köpfe
abgeschlagen und kleine Kinder auf Scheiterhaufen geworfen wurden.
Mittelalterliche Bumsereien behielt sie für sich, aber ich merkte es ihr immer
an, wenn sie eine las, weil sie sich dann plötzlich anders hinlegte, das Buch
so hielt, dass ich den Text nicht sehen konnte, nicht mitbekam, wie die Worte
in ihrem Kopf klingelten. Manche Bücher hatten anscheinend auf jeder zweiten
Seite eine Bumserei, denn dann wand sie sich wie die Nachrichtensprecherin im
Frühstücksfernsehen, die kleine kesse, die nicht still sitzen kann, eine Hand
über der Seite, wie eine Schülerin, die bei der Klassenarbeit verhindern will,
dass die Nachbarin abschreibt.
»Was liest du denn da, Audrey?«, sagte ich dann und gab
ihrem Po einen Stups, »na los, lass schon hören«, aber sie weigerte sich jedes
Mal, sagte bloß, ich sollte meine Hände bei mir behalten, und las weiter, bis
ich mich irgendwann wieder in ihren Leseradius traute.
Auch in einem Fenster oben in Alice Blackstocks Haus sah
ich schwaches Licht. Hatte es schon die ganze Zeit gebrannt, seit sie weg war?
Es war mir vorher nicht aufgefallen. Ich nahm die Blechdose aus dem
Handschuhfach, ging den Weg hoch und steckte den Schlüssel ins Schloss.
»Hallo?«, sagte ich, als ich die Tür öffnete. »Ist da
wer?«
Ich konnte hören, wie meine Stimme die Treppe hochlief,
oben durch den Raum schwebte und wieder zurückkam. Schon komisch, wie leer ein
Haus klingt, wenn es leer ist, nicht ohne Sachen, sondern ohne Leben, wie
gleichgültig es ist, wie voller Nichts. Ein einziger Mensch genügt, und es
klingt ganz anders, sanfter, nicht so kantig, als läge Hoffnung in der Luft.
Hunde können das auch. Monty auch, obwohl er so klein war. Der Bungalow klang
nie leer, wenn er drin war, aber wenn ich jetzt hineingehe, habe ich manchmal
das Gefühl, ich hätte ein verlassenes Unterseeboot betreten, das mich auf den
Grund des Meeres tragen wird. Vielleicht liegt es ja einfach an der
Körperwärme, die die Kälte absorbiert, die Gleichgültigkeit der Wände, keine
Ahnung. Aber als ich so dastand und horchte, wusste ich, dass dies ein leeres
Haus war, Licht hin oder her, und ich war froh darüber. Es stimmte, was ich
gesagt hatte. Ich musste ein bisschen herumschnüffeln.
Ich hatte Jacko nach Gras gefragt, aber eigentlich eher,
um mir eine Schlägerei zu ersparen als sonst was. Ich wusste, ich brauchte ihn
nicht, um Schnüffelnases Tabakdose wieder aufzufüllen. Ich musste mich
lediglich in ihrem Haus umschauen, nach lockeren Dielenbrettern suchen oder Abdrücken
im Teppich, wo Möbel verrückt worden waren, nach Kratzern im Holz, schräg
angelehnten Büchern, nach allem, was auf regelmäßigen, aber heimlichen Gebrauch
hindeutete, und voilá, da wäre er. Ihr geheimer Vorrat. Sie hatte ja praktisch
zugegeben, dass sie einen hatte. »Ich hab normalerweise immer ein paar Gramm
in Reserve«, hatte sie gesagt, in dem Glauben, wir dächten beide, sie spräche
von Tabak. Aber ich wusste es besser. Ich wusste, dass sie in ihrer Dose keinen
Tabak hatte, kein bisschen. Reines, unverfälschtes Gras hatte unter dem
kleinen Deckel gelegen, von guter Qualität, selbst angebaut, richtig super
Stoff. Dope wird es heutzutage gern genannt. Kein Name, der mir zusagt, hört
sich für mich zu gewollt cool, zu sehr nach billiger Absteige und
runtergekommenen Losern an. Aber ob Gras oder Dope, genau das hatte sie in der
Dose. Aber nicht den ganzen Vorrat. Die Dose enthielt genau die Menge, die sie
bequem in der Handtasche herumtragen konnte, wenn sie einen Spaziergang
machte, einkaufen ging, die Einfahrt von Cliff Harris hochstapfte, um ihm die
Meinung zu geigen, was sie vom Zustand seiner Esel hielt. Die Tabakdose war wie
eine Zuckerdose, für den unmittelbaren Gebrauch gedacht. Der Rest war irgendwo
versteckt, an einer Stelle, die nicht schwer zugänglich war, unauffällig, aber
praktisch. Und ich musste das Versteck finden, um ihre Dose wieder auffüllen zu
können und mir noch einen Gratisjoint zu gönnen, wo ich schon mal dabei war.
Natürlich könnte ich ihr sagen, ich hätte die Dose nicht gefunden, und trotzdem
eine rauchen, aber das hätte Schnüffelnase nur wieder ins Grübeln gebracht,
ihre Lieblingsbeschäftigung, und dann hätte sie wieder darüber nachgedacht,
was an dem Tag passiert war, und solange sich die Lage nicht beruhigt
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