Binding, Tim
denn der Scheiß?«
Sie reagierte nicht, sondern ging zu Kim, half ihm, sich
aufzusetzen, wischte ihm mit ihrem Ärmel das Blut ab. Ich kapierte gar nichts
mehr. Ihr Haar schien ihr vom Kopf zu rutschen, als wäre sie skalpiert worden.
Dann warf sie die Kapuze nach hinten und riss es sich runter, wischte ihm damit
das Gesicht sauber, und ich sah ihren Kopf, den wasserstoffblonden
Bürstenschnitt, der über ihrer Sonnenbrille schimmerte wie ein zweiter Mond.
»Gaynor?«
Kim rappelte sich hoch. Ich tat es ihm nach, wenn auch
unter Schmerzen. Wenn wir wieder aufeinander losgehen sollten, wollte ich nicht
auf dem Hintern sitzen. Er war sichtlich sauer auf mich, machte einen Schritt
auf mich zu, die hängenden Fäuste geballt. Sie zog ihn zurück.
»Gaynor«, sagte ich wieder und meine Augen huschten
zwischen ihnen hin und her. »Bist du das?«
Kim legte einen Finger an den linken Nasenflügel und
schnäuzte blutigen Schleim auf die Erde, wischte sich dann mit der Rückseite
des Ärmels über die Nase.
»Natürlich ist sie das«, sagte er und befingerte eine
Seite seines Gesichts. »Wer denn sonst?« Er bückte sich, um das Seil wieder
aufzunehmen, und Gaynor trat aus dem Knäuel zu ihren Füßen. Sie zitterte.
»Schon gut, Liebes«, sagte er mit ruhiger und sanfter
Stimme. »Geh schon mal vor. Es wird alles gut.«
Gaynor setzte die Perücke wieder auf und ging dann weiter
über das Feld, zuerst zögerlich, das Seil hinter sich herziehend.
»Na, geh«, sagte er wieder mit beruhigender Stimme. »Kein
Grund zur Sorge.«
»Kim«, sagte ich noch immer schnaufend. »Was zum Teufel
geht hier vor?«
Er nahm das andere Ende des Seils und wickelte es sich um
die Hand. Sie hatte jetzt ihren Rhythmus gefunden, halb gehend, halb trabend,
als könnte sie sich nicht richtig entscheiden.
»Gaynor macht einen Spaziergang«, sagte er und spannte das
Seil ein wenig. »Aber das geht dich einen Scheißdreck an.«
»An der Leine?«, sagte ich, weil ich noch immer nicht
glauben konnte, was ich da sah. Sie trabte jetzt am Ende des Seils herum, wie
ein Pferd im Zirkus, fuchtelte dabei wild in der Luft herum.
»Wieso nicht?«
»Weil sie ein Mensch ist, Kim, kein Hund.«
Er stutzte. »Du verstehst das nicht«, sagte er, während er
sie beobachtete wie ein Dompteur. »Mit dem Seil fühlt sie sich sicher. Weiter,
Mädchen«, flüsterte er laut. »Weiter.«
Sie fing an Saltos zu schlagen, lief und schlug Saltos,
ohne Hände, einfach aus dem Sprung. Sie war eine plumpe Frau, diese Gaynor,
aber was die da machte, sah schön aus, wie sie lief, so stark und robust, wie
viel Spaß es ihr machte, Saltos und Räder zu schlagen, lauthals lachend. Zehn
Meter entfernt und ich konnte spüren, wie die Erde bebte. Und ich hatte sie mit
Miranda verwechselt!
»Ich kapier das nicht, Kim. Ich dachte, sie könnte nicht
raus, sie wäre, wie hast du es genannt, agoraphobisch, ans Haus gefesselt.« Kim
zog an dem Seil, zog sie ein bisschen näher. Seine Stimme veränderte sich,
sanft wie eine Erinnerung, die erst im Dunkeln deutlich wurde.
»Das haben wir alle gedacht. Aber dann eines Abends konnte
ich sie überreden, auf den Hof zu gehen. Es hat ihr gefallen, solange ich dabei
war, solange sie den Hauseingang sehen konnte. Von da an sind wir jeden Abend
nach draußen gegangen, kein Problem, solange ich bei ihr war, solange sie den
Hauseingang sehen konnte. Dann, nach etwa einem Jahr, hab ich gedacht, ich
versuch mal, mit ihr bis hierhin zu gehen. Sie hat eine Heidenangst gekriegt.
Ich musste sie zurücktragen, und sie hat die ganze Zeit geschrien.«
»Letztes Jahr, ungefähr um diese Zeit?«, sagte ich. »Wir
dachten, du kochst Hummer.« Er nickte.
»Sie war panisch. Sie wollte einen Monat nicht vor die
Tür. Da hatte ich eine Idee. Wenn sie über ein Seil mit mir verbunden war,
würde sie wissen, dass sie jederzeit zurückkonnte, weil ich immer da sein
würde, um sie zurück ins Haus zu ziehen, in Sicherheit. Davor hat sie nämlich
Angst. Nicht davor, draußen zu sein, sondern nicht mehr zurückzukönnen,
losgelöst zu sein. Nachdem ich einen Monat auf sie eingeredet hatte, haben wir
es ausprobiert, zuerst das Feld und dann noch weiter. Inzwischen kann sie
Spaziergänge machen, hoch zum Kliff, rüber zum alten Campingplatz. Wir sind
sogar schon mal in die andere Richtung, bis hinters Artilleriegelände. Solange
das Seil da ist, solange sie mit mir verbunden ist, fühlt sie sich sicher.
Verstehst du jetzt, warum ich sie nie verlassen könnte? Ich
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