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Bindung und Sucht

Bindung und Sucht

Titel: Bindung und Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Heinz Brisch
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wahrscheinlich aus allgemeinen Schmerzmechanismen entwickelt (Panksepp 1981, 1998, 2003a, b), und das vermutlich schon vor weit mehr als 100 Millionen Jahren (Vögel besitzen ein homologes System). Dieses wichtige – durch Opioide modulierte – System fördert den sozialen Zusammenhalt, trägt zur Herstellung von Bindungsbeziehungen und Abhängigkeiten zwischen kleinen Kindern und ihren Müttern bei, festigt wahrscheinlich sexuelle Beziehungen und könnte letztlich auch das Fundament der Solidarität von Arten bilden, die in Gruppen leben. Was die Rolle des PANIC-Systems im Rahmen der zwischenmenschlichen Bindungen angeht, so könnte man sagen, dass es ein gewisses Maß an Erregung erfährt, wenn man den Menschen, dem man sich verbunden fühlt, vermisst – womit die zentrale Stellung dieses Systems in den sozialen Angelegenheiten des Menschen hinreichend herausgestellt sein dürfte. Wenn ein Mensch niemals vermisst wird, dann bedeutet das, dass keine Bindung an dieses Individuum besteht. Soziale Separiertheit, die Folge zerrissener Bindungsbeziehungen, lässt die betroffenen Individuen auf eine sehr spezielle und höchst abträgliche Weise leiden. Dieses psychische Leid, das die meisten Menschen um fast jeden Preis zu vermeiden suchen, ist offensichtlich ein Einfallstor für schwere Formen der Depression.
    Die akute Reaktion auf den Trennungsschmerz birgt zwar das affektive Potential für depressive Störungen, stellt aber nicht unbedingt eine eigene und anhaltende pathologische Symptomatik dar. Dafür werden allerdings gewisse neuroaffektive Veränderungen in Gang gesetzt, die das Gefühl der Erschöpfung und Verzweiflung stärken, und diese Prozesse sind neurowissenschaftlich noch nicht wirklich geklärt. Die eine Forschungslinie besagt, dass Immunmodulatoren – z. B. Zytokine wie Interleukin-1, IL-6 und TNF-alpha –, die krankheitsähnliche affektive Zustände einzuleiten vermögen (Hennessy et al. 2001), die anhaltende Verzweiflung der Depression simulieren könnten. Gleichermaßen »vielversprechend« ist die Möglichkeit, auf die wir uns hier konzentrieren wollen, dass nämlich anhaltender Trennungsschmerz mit der Folge, dass die SEEKING-Impulse nachlassen, letzten Endes in Verzweiflung mündet.
    Wenn der Protest es nicht vermag, eine Wiedervereinigung sicherzustellen, kommt es zu einem allmählichen verhaltensrelevanten und psychischen »Abschalten« bzw. zur Depression. An diesem kritischen Punkt des Übergangs von der Protest- zur Verzweiflungsphase der Depression taucht eine neue Form des anhaltenden negativen Affekts auf, ein voll entwickeltes depressives Erscheinungsbild.Die durch das »Aufgeben« geförderte weitere Steigerung des negativen Affekts kann dazu führen, dass der anhaltende psychische Trennungsschmerz sich mit der Unfähigkeit verbindet, psychische Energien – wie etwa die Euphorie des SEEKING-Impulses – zu gewinnen, wie sie die positive Lebenseinstellung kennzeichnet. Dieser Endzustand ist durch ein geringeres »Engagement« bezüglich der Welt und ein nachlassendes Streben nach – realen oder imaginierten – Belohnungen charakterisiert.
    Dieser Phase des verzweifelten Aufgebens muss unter Umständen nicht nur mit neurochemischen Maßnahmen begegnet werden, die den psychischen Schmerz der Verlusterfahrung lindern; es muss auch ein Weg gefunden werden, die dopamingesteuerten SEEKING-Impulse, wie sie die depressive Verzweiflung charakterisieren, zu steigern. In einem gewissen Sinne können opioide Substanzen beides, nämlich sowohl ein dopaminunabhängiges Lustgefühl erzeugen als auch das dopaminregulierte SEEKING-System fördern, zumal in niedrigen Dosen. Das heißt also, beim Auftauchen des depressiven Affekts ist es wichtig, sowohl auf den Erschöpfungszustand des verminderten SEEKING wie auch auf den psychischen Schmerz und das Leeregefühl des Trennungsschmerzes einzugehen. Tatsächlich ist seit der Entdeckung von Anisman und Matheson (2006), dass Stressoren, die im Tiermodell depressive Profile fördern, mit höheren Erregungsschwellen des belohnungssuchenden SEEKING-Systems einhergehen, immer wieder von ähnlichen Ergebnissen anderer Forscher berichtet worden (Nestler & Carlezon 2006; Pereira Do Carmo et al. 2009). Was die Reduzierung der SEEKING-Impulse verursacht, ist eine zentrale Frage der Depressionsforschung. Ein »Schlüsselkandidat« ist der graduell zunehmende Einfluss der Dynorphine – einflussreicher und weitverbreiteter Hirnopioide, die eine sehr spezielle Form

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