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Biodiversität: Unsere wertvollste Ressource

Biodiversität: Unsere wertvollste Ressource

Titel: Biodiversität: Unsere wertvollste Ressource Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Neßhöver
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freie Aussicht und hier versetze mich das, was ich sah, vollends in Erstaunen. Die Tauben flogen mit großer Stetigkeit und Schnelligkeit ungefähr in der Höhe eines Büchsenschusses über mir, mehrere Schichten dick und so eng neben einander, daß, wenn ein Flintenschuß sie hätte erreichen können, eine einzige Ladung mehrere von ihnen gefällt habenwürde. Von der Rechten zur Linken, so weit das Auge reichte, erstreckte sich dieser unermeßliche Zug in Breite und Länge, und überall schien er gleich gedrängt und gleich dicht zu sein. Neugierig, zu erfahren, wie lange das Schauspiel währen würde, zog ich meine Uhr, um die Zeit zu bestimmen, und setzte mich nieder, um die vorüberziehenden Taubenscharen zu beobachten. Es war ein Viertel nach ein Uhr, und ich saß von nun an mehr als eine Stunde, aber statt daß ich eine Verminderung des Zuges wahrnehmen konnte, schien er zu wachsen an Anzahl und zuzunehmen an Schnelligkeit, und ich mußte endlich, um Frankfort noch zu erreichen, meinen Weg fortsetzen.“
    Jäger hatten also leichtes Spiel, Berichte von Jagdwettbewerben sprechen von Zehntausenden erlegter Tauben an einem Tag.
    Doch nicht nur ihre Rolle als Nahrungsressource wurde den Tauben zum Verhängnis, ihre große Zahl machte sie auch zu Schädlingen, da sie enorme Massen von Samen und damit Getreide fraßen. Zu ihrem Aussterben trug außerdem die Vernichtung ihres Lebensraums bei: Zur Brut sind die Wandertauben auf große, intakte Laubwälder angewiesen, wie es sie im Osten Nordamerikas lange gab. Die Rodung dieser Wälder führte zu einem Verlust der Lebensgrundlage, inklusive der zentralen Nahrung, der Nussfrüchte der Laubbäume. Kolonien der Tauben konnten bis zu mehrere tausend Hektar umfassen. Vermutlich war die Taube auf die großen Populationen angewiesen, auch um potenzielle Feinde während der Brut durch die schiere Masse zu „sättigen“. Wurden die Populationen kleiner, war die Taube anfälliger, denn der Nachwuchs betrug nur ein bis zwei Nestlinge pro Paar. Zudem profitierte der Mensch von diesem Verhalten der Tiere, da eine „Ernte“ in den Nistkolonien leichtfiel. Von einer der letzten großen Nistgebiete in Petoskey, Michigan, ist bekannt, dass dort im Jahre 1878 täglich 50 000 Vögel getötet wurden, und das nahezu über fünf Monate hinweg. Wenn die überlebenden Tiere versuchten, an einer andere Stelle zu nisten, wurdensie schnell von professionellen Jägern entdeckt und getötet, bevor sie brüten konnten. Gesetze in Michigan, die die Tötung in der Umgebung der Nistplätze verboten, kamen zu spät und wurden auch kaum umgesetzt.
    Die Wandertaube ist damit ein herausragendes Beispiel für eine manchmal sehr kurze Beziehung zwischen Mensch und Natur: Zur Nutzung als Nahrungsressource kommt die Übernutzung des Lebensraums hinzu. So wird die Nische zerstört, in der sich eine Art eingerichtet hat. Wie sich dies konkret im Gesamtsystem der Natur vor Ort auswirkte, ist rückblickend schwer zu sagen. Sicherlich waren die Tauben mit ihrer großen Biomasse auch eine wichtige Nahrungsgrundlage für Räuber in der Luft und am Boden. Diese Ressource ging Ende des 19. Jahrhunderts verloren.
    Ein ähnliches Schicksal hätte auch europäische Vögel ereilen können. Denn auch in Europa wurden zahlreiche Vögel, die in größeren Beständen vorkommen, seit jeher als Ressource genutzt, und der zunehmende Nahrungsmittelbedarf der Städte führte dazu, dass die Jagd professionalisiert wurde, insbesondere in Regionen, wo sich Arten in größerer Anzahl auf ihren Frühjahrs- oder Herbstzügen sammelten. So waren die Feldlerchen (Aluada arvensis) aus Leipzig im 18. und 19. Jahrhundert eine bekannte Delikatesse, die nicht etwa nur regional genutzt, sondern sogar exportiert wurde. Auf ihrem Weg in den Süden fanden sich die Lerchen in großen Mengen in den umgebenden Auwäldern ein, wo sie, ebenfalls in großen Mengen, gefangen wurden. Aus dem Jahr 1720 ist verbrieft, dass 400 000 Lerchen an den Stadttoren verkauft wurden. Im 19. Jahrhundert wuchs die Kritik an dieser intensiven Nutzung, und so erließ König Albert I. im Jahr 1876 ein Lerchenfangverbot – eines der ersten Naturschutzgesetze in Deutschland.
    Dies hatte Folgen für die Wirtschaft: Lange hatten die Leipziger Bäcker davon profitiert, dass sie Lerchenpasteten in großer Zahl herstellen konnten. Um das zu kompensieren, erfand einfindiger Leipziger Bäcker, so wird kolportiert, die heutige Leipziger Lerche – ein Mürbteiggebäck mit

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