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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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das im fruchtbaren Tal des Carrión gelegene Städtchen als unversiegbare Vorratskammer. Villa rica en trigo, vino, carne y en todo tipo de producción próspera , lobte es Aymerich Picaud in Codex Calixtinus , dem ultimativen Pilgerbuch des Mittelalters. Was im 12. Jahrhundert galt, gilt bis heute. Anderorts aber herrschte der Niedergang. Auch da könnte man mehr aus den Pilgern rausholen, doch hätte man dafür mehr zu tun. Zum Beispiel auf die Siesta zu verzichten oder ein vernünftiges Warensortiment anzubieten. Heute kamen wir durch eine Stadt, in der fast die Hälfte der Häuser zum Verkauf anstand. Viele davon wieder nur notdürftig von innen gestützte Fassaden. Es gab keine Geschäfte, keinen Arzt, kein Gemeindegrün, keinen, der etwas arbeiten würde. Eigentlich gar keinen sichtbaren Menschen, um genau zu sein. Dann aber, am Ortsausgang, lief ein Bauer vom Acker rüber und überschüttete mich und Pep mit schönen saftigen Tomaten und Gurken, so daß wir am Ende beschämt abwinken mußten, weil wir sie gar nicht hätten tragen können. Ja, eigentlich von einem gewiß nicht reichen Mann auch nicht hätten annehmen dürfen. Und nun saß ich da, selbst reich, fesch und sauber, an einem frisch gedeckten Tisch, das Tischtuch gestärkt und blütenweiß, das Geschirr ohne einen einzigen Fingerabdruck, und ließ mir den Wein schmecken. Der Herr hatte mich lieb, führte mich an die grüne Weide.
Terradillos de los Templarios, km 2461
    Der nächste Tag begann mit einer achtzehn Kilometer langen Strecke auf großen, runden Flußkieseln. Für Blasen und Gelenkschmerzen wie geschaffen. Den Idioten, der das veranlaßte, sollte man barfuß darüber jagen. Aber der Gedanke bot keinen Trost. Statt dessen kam mir, wie in der letzten Zeit immer öfter, der Bibelspruch, den ich in Le Puy mit auf den Weg bekam: Doch Gott, der Herr, wird mir helfen; darum werde ich nicht in Schande enden. Deshalb mache ich mein Gesicht hart wie einen Kiesel; ich weiß, daß ich nicht in Schande gerate. [71] Damals fand ich ihn mehr als merkwürdig, rätselhaft, ja gar empörend. Ich hatte eine gute, lustige Zeit mit Sissi, Joanna und den anderen französischen Pilgern, aß, trank und schlief gut, hatte keine wesentlichen Beschwerden. Und der Herr ging ja mit, ließ mich seine Gegenwart immer spüren, wies mir den Weg, erstaunte mich den ganzen Tag mit allem Denkbaren, mit Goldrand am Himmel, ja sogar in der Nacht, wenn er die Sterne wie Räder rotieren ließ. Warum sollte man da an den unbequemen Propheten denken, den man bespuckte, dem man den Bart ausriß, der vor Kummer und Verbissenheit keinerlei Freude gelten ließ? War es nicht eher so, daß jemand in der Kathedrale von Le Puy völlig planlos einen doofen Bibelspruch aussuchte und dem armen Pilger aufs Auge drückte, damit er etwas mehr hatte, um sich Sorgen zu machen? Nun aber standen die Fronten klar, und der Spruch wurde greifbar. Niemand mochte mich hier, die Fortbewegung wurde zum Kampf, nichts machte Freude, Schmerzen überall. Und der Herr suchte sich einen Würdigeren, um mit ihm zu marschieren und sein Herz zu erfreuen. Nun war ich allein auf einem staubigen Pfad voller Widrigkeiten unterwegs. Und dessen Ende war keineswegs nahe. Der Weg zog sich schier endlos hin, so wie die dürre kastilische Hochebene scheinbar nicht weniger wurde. Aufgeben ging nicht. Nicht, wenn man dem Herrn, dem Allmächtigen, das Wort gab. Deshalb hatte auch ich, wie der Prophet Jesaja zuvor, selbst zum Kiesel zu werden, in der Gewißheit, nicht zuschanden zu werden. Hart wie die Kiesel unter meinen Füßen.
    Es hieß, daß man nichts mehr zu beklagen hatte, egal, was kam. Doch war es nicht etwa eine asketische Gefühllosigkeit sich selbst gegenüber, vielmehr eine höhere geistige Konzentration. Achtsam auf das Wesentliche. So zum Beispiel galt es, den Körper zu pflegen, warten und reparieren. Dies aber geschah völlig emotionslos, als ob dieser Körper nichts anderes wäre als ein Motor, ein Träger, der mich zum Ziel trug. In der Mittagspause packte ich die Blase aus, mit der ich seit Tagen unterwegs war, und die immer größer, tiefer, blutiger wurde, bis das rohe Fleisch darunter zu sehen war. Ohne Aufregung, ohne Leid. Dabei war es mir völlig klar, sollte sich diese Wunde infizieren, könnte es schlimmste Folgen haben. Ich klagte nicht über die Wunde, ich klagte nicht über die Schmerzen, die sie mir beim Gehen verursachte, ich beschränkte mich nur darauf, die Entzündung einzugrenzen. Gelänge

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