Bis ans Ende des Horizonts
heckte sie einen Plan aus und brachte mich lange vor der Geburt aufs Land. Dort fand die Geburt sozusagen im Geheimen statt.«
Ich drücke auf den Pause-Knopf und gieße mir einen doppelten Whisky ein. Ich schütte ihn mit zwei Schlucken in mich hinein und genehmige mir dann noch einen. Ich ahne bereits, worauf das Ganze hinausläuft, und werde ziemlich nervös. Meine Hände zittern, und ich fühle meine Beine nicht mehr. Ich stütze mich auf der Tischplatte ab und setze mich wieder. Als ich auf die Play-Taste drücke, wackelt mein Finger wie eine Wünschelrute.
»Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe«, sagt sie, »sah ich sofort deinen Vater in dir. Seine wunderschönen blauen Augen und die langen Wimpern. Deshalb habe ich dich Jimmy genannt. Du warst ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Ich trinke meinen zweiten Whisky.
»Es war die Idee meiner Mutter. Sie zwang mich dazu.« Ich höre sie jetzt weinen, und ihre Stimme bricht. »Nur unter dieser Bedingung durfte ich dich behalten. So war das in den vierziger Jahren, verstehst du? … Die Leute haben es ignoriert, wenn ein Mann einen Bastard zeugte. Für eine Frau allerdings … für eine Frau ziemte es sich nicht, uneheliche Kinder zu haben.« Sie schweigt. Es ist vollkommen still; außer dem Drehen der Kassettenspulen ist nichts zu hören. Im ersten Moment denke ich, das ist das Ende der Geschichte, sie hat nun nichts mehr zu sagen. Doch nach einer geraumen Zeit hustet sie wieder und schlürft ihren Drink.
»Wie oft habe ich mir gewünscht …«, murmelt sie. »Wie oft wollten wir … wie oft wollten Martin und ich … dir die Wahrheit sagen.« Sie hat offenbar die Fassung verloren, doch sie fängt sich wieder. »Wir wollten es dir spätestens nach dem Tod unserer Mutter sagen. Aber zu dem Zeitpunkt, mein Gott, da warst du auf der Uni mit deinem Stipendium als Aborigine, und da wollten wir nicht … Ich weiß es auch nicht … Wir brachten es einfach nicht über uns.« Ich höre ein Glucksen in ihrer Kehle, ein leichter Schluckauf vielleicht. »Und nachdem du dich entschlossen hattest, Schriftsteller zu werden … ist es uns aus den Händen geglitten. Ich bin mir darüber im Klaren, dass dies jetzt alles sehr schockierend für dich ist. Deswegen habe ich Brian gebeten, nach meinem Tod ein Jahr zu warten, bevor er dich auf diese Bänder aufmerksam macht.« Sie schnäuzt sich die Nase und seufzt. »Aber ich wollte auf jeden Fall, dass du über Folgendes im Bilde bist: Jimmy, du bist mein wunderbarer Sohn. Und ich wollte auch, dass du um die unaussprechlich tiefe Liebe weißt, aus der du hervorgegangen bist. Diese große Liebe, die ich auch für dich empfinde …«
Ihre Stimme bricht ab, und ich bin so überwältigt, dass mir das Blut in den Schläfen pocht. Es ist nicht so, dass ich schlagartig eine Sohnesliebe für Pearl entwickle. Als Erstes laufe ich im Haus herum und fange an, Sachen an die Wand zu schmeißen – ihre Lieblingsvase, ihr Geschirr, Claras Champagnergläser. All die Jahre habe ich mich immer wieder gefragt, wer meine richtige Mutter sein könnte, wo ich herkomme, warum das alles so ein großes Geheimnis ist. All die Jahre habe ich mir vorgestellt, wie mich meine angebliche Mutter als Jugendliche zur Welt brachte, diejenige mit dem üppigen auf die Schultern fallenden schwarzen Haar und den bernsteinfarbenen Augen. Diejenige, die von einer Missionsstation außerhalb von Dubbo gekommen sein soll.
Und was soll ich nun meinem eigenen Sohn erzählen und meiner Exfrau und all meinen Nachbarn und Freunden? Ich bin ja immer ein bisschen ein Außenseiter gewesen, aber nach diesen Neuigkeiten bin ich mir selbst fremd.
Was muss das für eine Familie sein, die ein derartiges Geheimnis so lange zu hüten imstande ist? Alles nur, um Pearl und den guten Ruf der Familie Willis zu schützen.
Apropos guter Ruf … Himmel noch mal, das stimmt … Ich gelte als der erste Aborigine-Kriminalschriftsteller. Diese Bezeichnung steht auf den Umschlägen sämtlicher Bücher, die ich geschrieben habe – über zweihunderttausend Exemplare weltweit. Ich habe vor kurzem den Deadly Award verliehen bekommen, eine Auszeichnung für die Kultur der Ureinwohner.
Wahrscheinlich wird es nicht lange dauern, bis ich als literarischer Falschmünzer entlarvt werde, der sich als falscher Aborigine feiern lässt.
Erst nachdem ich eine weitere antike Porzellanschüssel in der Küche zertrümmert habe, erst nachdem mir Omar, einer der Handwerker, in den Arm gefallen ist, um
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