Bis ans Ende des Horizonts
mich zur Vernunft zu bringen, verraucht mein Wutanfall allmählich.
Omar nötigt mich in einen Sessel, holt ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank und drückt es mir wortlos in die Hand. Ich hingegen biete ihm die Flasche an, doch er schüttelt nur den Kopf, kehrt ins Basement zurück zu seiner Arbeit. Nach zwei Flaschen Bier habe ich das Gefühl, dass ich langsam wieder Vernunft annehme. Ich bekomme etwas Abstand zu der Sache und kann Pearls Standpunkt durchaus verstehen.
Ich muss es akzeptieren, dass sie gezwungen worden wäre, mich zur Adoption freizugeben, wenn sie sich Claras Plan nicht gefügt hätte. Als alleinstehende Mutter mit einem farbigen unehelichen Kind wäre sie in der australischen Gesellschaft der vierziger Jahre geächtet worden. Und angesichts ihrer obsessiven Liebe zu James kann ich mir gut vorstellen, dass sie es um keinen Preis über sich gebracht hätte, mich einfach wegzugeben. Ich war sozusagen der Teil von ihm, der über- und weiterlebte.
Wenn ich unter diesem Gesichtspunkt auf meine Kindheit zurückschaue, dann sehe ich natürlich vieles in einem ganz anderen Licht: wie Pearl jeden Tag darauf bestand, mich vor dem Abendessen zu baden, wie sie mir zum Einschlafen immer Märchen und Geschichten erzählte, unsere vielen gemeinsamen Ausflüge, nur wir beide, wie sie mich mit zum Strand nahm, ins Kino, zu Freiluftkonzerten, zum Fußball, und die vielen Überraschungen und Geschenke. Das waren keine Unternehmungen mit einer besonders lustigen Tante, sondern die verborgene Liebe einer Mutter. Von daher werden mir auch ihre ständigen Streitigkeiten mit Clara, ob und wie ich für kindliche Vergehen zu bestrafen sei, im Nachhinein verständlich. Wenn ich adoptiert worden wäre, hätte ich Pearl nie kennenlernen können, und schon gar nicht den Rest meiner natürlichen Familie. Und auch sie hätte mich nie kennengelernt und aufwachsen sehen. Und dann fällt mir auch noch ein, dass Clara es Pearl die ganzen Jahre über vorgehalten hat wie eine versteckte Drohung.
Vielleicht finde ich aber doch noch einen Ausweg aus meinem Dilemma. Es kann durchaus sein, dass Pearl durch die Art, wie sie die Entstehung dieses Buches angelegt hat – Abhören der Bänder nacheinander, schriftliches Ausformulieren nach jedem einzelnen Band –, mich vorsichtig auf den unausweichlichen Schock vorbereiten wollte. So gesehen finde ich es aufregend, dass ich richtiges Künstlerblut in den Adern habe, mütterlicherseits wie väterlicherseits. Nun bin ich der Sohn einer Frau, die ein Jahr lang einen Mann »verkörperte«, der Neffe eines Mannes, der ein Jahr lang auf einer Pfauenfarm untertauchte, damit seine Schwester und er nicht aufflogen, der Enkel einer Frau, die mal halb als Mann, halb als Frau auftrat. Na bitte, derartige Maskeraden haben in unserer Familie Tradition, das liegt uns im Blut. Ich könnte dieses Manuskript getrost die nächsten Jahre in der Schreibtischschublade liegen lassen, wenn ich will, bis zu meinem Tod. Dann würde niemand etwas erfahren.
Ich gieße mir noch einen Whisky ein und denke über diese Möglichkeit nach. Doch während ich das Glas austrinke, überlege ich es mir anders.
Falls sich meine Herman-Djulpajurra-Serie weiterhin als gut geschrieben und überzeugend behauptet, dann gibt es keinen Grund, warum es für das Publikum und die Presse eine Rolle spielen sollte, ob mein Vater ein schwarzer Amerikaner oder ein farbiger Australier war. Leben und leben lassen, heißt es doch so schön. Aber ich denke, ich werde noch ein paar Tage warten, bevor ich alles hinausposaune. Und wenn ich es tue, dann werde ich Barney, meinen amerikanischen Agenten, bitten, auf meiner nächsten Lesereise in den USA auch einen Abstecher in den Süden, nach Louisiana, einzuplanen. Vielleicht habe ich noch Familienangehörige dort.
Im Rückblick erkenne ich jetzt deutlich, dass Pearl all ihre Liebe und lebenslange Sehnsucht nach James auf mich übertragen hat, und was sie noch übrig hatte, das widmete sie dem Saxofon. Clara, Aubrey und Martin behandelten mich wie ihr eigenes Kind, und einer von ihnen kümmerte sich immer um mich, wenn Pearl zu den Proben musste oder nachts arbeitete. Pup starb, als ich sechs Jahre alt war. Pearl und ich waren so unendlich traurig, dass Aubrey sie ausstopfte und bernsteinfarbenes Glas an die Stelle ihrer Augen setzte. Dann leimte er das Präparat auf ein kleines Holzbrett mit vier Rädern und band eine Schnur daran, sodass ich sie im Haus immer hinter mir herziehen konnte und so
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