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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Sayer
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den Schultern trug, bis hin zu der forschen Gangart, mit der er sich in die Kolonne einreihte. Sie folgte seinem Marschtritt über das Hafengelände bis zu der Stelle, wo eine breite und steile Brücke im 45-Grad-Winkel auf das Schiff führte. Nur unter Mühen konnte sie unter dem Gewicht des Rucksacks das Gleichgewicht bewahren, denn auf der steilen Treppe hätte es sie um ein Haar nach hinten gezogen. Mit der einen Hand umklammerte sie den Saxofonkasten, und mit der anderen fasste sie das Geländer, um nicht ins Hafenbecken zu fallen, womit ihr großes Fluchtabenteuer ein abruptes Ende gefunden hätte, bevor es richtig begann.
    Endlich stolperte sie an Deck und war froh, wieder einen geraden Boden unter den Füßen zu haben. Jeder Quadratzentimeter des Schiffes war in der gleichen stumpfen grauen Farbe gestrichen. Sie blieb einen Moment stehen, um wieder etwas zu Atem zu kommen, und staunte, wie hoch über dem Wasserspiegel sie sich befand, als hätte sie die vielen Stufen eines hohen Gebäudes erklommen. Von ihrem Standort aus konnte sie sehen, wie die Sonne hinter Shark Island aufging, die Küstenlinie im Norden, ja sogar die markante Ansammlung von Gebäuden oben an der William Street.
    »Vorwärts, Willis! Wir sind hier nicht auf einer Ferienreise.« Der weißhaarige Offizier schubste sie vorwärts, und gleich darauf stand sie erneut in einer Warteschlange. Kurze Zeit später händigte ihr ein Schiffsmatrose eine grellgelbe Schwimmweste aus. An der nächsten Station erhielt sie einen Patronengurt sowie eine Feldflasche. Und noch eine Station weiter sah sie sich zu ihrem Entsetzen einem pausbäckigen Soldaten gegenüber, der ihr ein Sturmgewehr aushändigen wollte.
    »Das werde ich nicht brauchen«, sagte sie und hielt ihren Saxofonkasten in die Höhe. »Ich bin einer von den Musikern.«
    »Lediglich in dein Horn da zu furzen wird dir nicht helfen, wenn dir General Tojos gelbe Horden auf den Fersen sind.« Er drückte ihr kurzerhand die Waffe in die freie Hand und wies sie an, sich ihrer Einheit anzuschließen.
    Mühsam kämpfte sie sich über Deck, überhäuft mit Schwimmweste, Patronengurt, Feldflasche, Saxofon und Gewehr, das sie in seiner Stoffhülle in die Armbeuge geklemmt hatte; so wirkte es eher wie eine überdimensionierte, merkwürdig geformte Handtasche und nicht wie eine todbringende Waffe. Sie schloss sich den übrigen Männern an, die sich mittlerweile lässig gegen die Reling im Achterschiff lehnten, Zigaretten rauchten und sich gegenseitig Witze erzählten. Nachdem sie nun die erste schwierige Hürde genommen hatte, wurde Pearl mit einem Mal nervös. Bisher hatte sie sich noch sozusagen im Schleier der Dämmerung bewegen können, wo man im Zwielicht kaum mehr als die Umrisse eines Gesichts erkennen konnte. Aber würde sich die Verkleidung auch im vollen Tageslicht durchhalten lassen?
    Eine Anzahl in Tränen aufgelöster Frauen stand unten am Kai; sie winkten mit Taschentüchern, warfen Luftschlangen und schickten immer wieder Kusshände zu ihren Angehörigen und Freunden aufs Schiff. In diesem Augenblick wünschte sich Pearl, eine von diesen jungen Frauen in Wollmänteln dort unten zu sein, die nun in Sydney zurückblieben, sich ihre Lebensmittelkarten einteilten, gelegentlich einen Kuchen ohne Butter backen würden und jeden Tag zur Arbeit in irgendeine Fabrik gingen. In diesem Augenblick empfand sie die Uniform ihres Bruders als beengend, die Waffe in ihrer Hand wog unendlich schwer. Sie wünschte sich Lockenwickler im Haar, Make-up auf ihren Wangen und Hüfthalter an den Lenden. Sie wünschte sich all das, was Martin nun für den Rest des Krieges genießen konnte: ein warmes Bett, eine treue Freundin und praktisch nichts, worum er sich kümmern musste.
    Das Schiff legte in den ersten Sonnenstrahlen dieses Frühlingsmorgens ab. Die bunten Luftschlangen dehnten sich, bis sie zerrissen und schließlich auf der Wasseroberfläche schwammen, als seien sie Tausende von zerrissenen Stoffbändern. Seemöwen flogen auf und nieder, umkreisten das Deck und begleiteten die Ausfahrt mit ihrem Krächzen. Pearl stellte sich an die Reling und beobachtete das im Sonnenlicht glitzernde Wasser und wie die ersten Hafenfähren losdampften. Die Stadt wurde allmählich immer kleiner. Als das Schiff an Garden Island vorbeifuhr, konnte sie für einen Moment das Haus ihrer Eltern am Ende der Straße erkennen. Die Teerpappen waren entfernt worden, und jemand stand vorn vor dem Haus und lehnte sich gegen den Zaun, aber

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