Bis ans Ende des Horizonts
sie konnte aus dieser Entfernung nicht einmal unterscheiden, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Sie wurde von einem Schwindelgefühl erfasst und fürchtete, sie könnte unwillkürlich in Tränen ausbrechen – ausgerechnet hier, vor den Augen der anderen. Um sich zu beruhigen, zwang sich Pearl, Martins Identifikationsnummer dauernd zu wiederholen. Dann hob sie den Arm und winkte nach drüben – wer immer dort im Vorgarten stehen mochte.
»He, Willis!« Pearl drehte sich um, und vor ihr stand Charlie Styles zusammen mit einem dünnen Gefreiten, den sie auf Mitte zwanzig schätzte. Er hatte rötliche Haare, die wie Stahlwolle wirkten, und vorstehende Vorderzähne. Bei seinem Anblick musste sie unwillkürlich an ein hungerleidendes Kaninchen denken. »Das ist mein Kumpel Blue. Zweite Posaune.«
Sie wollte sich mit einem Nicken und einem floskelhaften »Nett, dich kennenzulernen!« begnügen, als Blue blitzartig seine Hand vorstreckte. Sie bemühte sich um einen festen Griff. »Martin«, sagte sie, »Tenorsaxofon.«
»Weiß schon.« Blue kratzte sich am Kopf und zog ein einzelnes Haar heraus, das er genau betrachtete, bevor er es zu Boden warf. »Ich habe dich schon oft im Trocadero spielen gehört. Bei deinem Solo von Tuxedo Junction kamen meiner Mutter immer die Tränen.«
»War ich so schlecht?«
»Nein, ganz im Gegenteil, es war supergut.«
Dieses unverhoffte Lob hatte bei ihr eine ganz andere Wirkung, als sie wohl beabsichtigt war, denn bei dem Gedanken daran, dass sie schon seit über einem Jahr nicht mehr auf der Bühne gestanden hatte, wurde ihr ganz mulmig.
»Übrigens teilen wir drei uns eine Kabine«, verkündete Charlie freudestrahlend und schwenkte ein Blatt Papier in der Hand. »Unser Jazzbandkäpt’n möchte anscheinend die Blechbläser zusammenhalten.«
»Du meinst wohl, die Schwanzbläser zusammenhalten«, tönte es von hinten. Pearl blickte über die Schulter und erkannte einen Gefreiten, der ein anzügliches Grinsen aufgesetzt hatte. Er hatte einen schmalen Mund, und seine Augen lagen so weit auseinander, dass Pearl unvermittelt an ein Chamäleon denken musste. »Damit ihr euch alle drei gegenseitig einen blasen könnt«, setzte er noch hinzu und wandte sich ab.
Charlie ignorierte den Mann einfach und deutete mit einer Kinnbewegung zu einem höher gelegenen Deck. »Gehen wir.«
Pearl wunderte sich über die unverhoffte Feindseligkeit des Gefreiten. Sie wuchtete sich das Marschgepäck auf den Rücken und griff nach ihrer übrigen Ausrüstung. Dann folgte sie den anderen durch die Ansammlung der Soldaten an Deck. »Wer war das eigentlich?«, fragte sie.
Charlie schnaubte. »Nigel Moss. Erstes Altsaxofon. Er ist von einer Artillerieeinheit zu unserem Musikkorps versetzt worden. Sein Vater ist Hauptmann. Hat sicher seine Beziehungen spielen lassen.«
Als sie die Stufen zum zweiten Deck hinaufstieg, nahm sich Pearl vor, sich von Nigel Moss möglichst fernzuhalten.
Da sie nun noch höher gelangt waren, erkannte Pearl, dass sie mit drei anderen Schiffen einen Konvoi bildeten und eben im Begriff standen, an der Hafeneinmündung vorbei auf den unendlichen Pazifik hinauszufahren. Aus dieser Höhe und Entfernung wirkten die anderen Schiffe wie Spielzeugboote in einer Badewanne.
»Das war einmal einer von diesen Luxusozeandampfern«, erklärte Charlie, als er die Kabinentür öffnete. »Schade drum! Jetzt ist es nur ein graues Kriegsschiff.«
Sie quetschten sich zu dritt in die Kabine hinein, und Pearl bemerkte sogleich, dass alles, was sonst zur Ausstattung einer Passagierkabine gehörte, ausgebaut worden war, um Platz für drei übereinander angeordnete Hängematten aus Segeltuch zu schaffen, die fast den gesamten verfügbaren Raum einnahmen. Das Bullauge war entsprechend den Verdunkelungsregeln überstrichen worden. Das Einzige, was sonst noch von der Kabinenausstattung geblieben war, war ein Schrank und die Wandtäfelung aus Mahagoni. Immerhin verfügte die Kabine über ein eigenes angrenzendes Bad mit teilweise gesprungenen Kacheln mit Blumenmustern und angeschlagenen Messinghähnen, aus denen vom Rost verfärbtes Wasser strömte.
Sie warfen eine Münze, um auszumachen, wer unten schlafen durfte. Blue war der glückliche Gewinner. Charlie bekam die Mitte und Pearl musste ganz oben schlafen, und so verstauten sie ihre Habseligkeiten in einer Ecke der Kabine, um etwas Platz zu schaffen. Blue trat ins Badezimmer und stellte sich vor den Spiegel. Zuerst dachte Pearl, er wolle ein
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