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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Sayer
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zuckte sie angesichts ihres eigenen Spiegelbildes zusammen. Sie hielt inne und schaute noch einmal näher hin. Das Glas war zartrosa eingefärbt, und die eingeätzte Gestalt stellte eine Frau in Abendgarderobe und mit einem Blumenkranz im Haar dar. Pearl schnappte sich einen Blechteller und folgte Charlie die wenigen Stufen auf die Bühne hinauf. Von hier aus bot der ehemalige Ballsaal einen noch immer eleganten und zugleich aber auch traurigen Anblick wie der Palast eines Königs, der plötzlich verarmt war. Die gläsernen Wandverkleidungen und die Spiegel verstärkten die mittägliche Helligkeit und die Lichtreflexe des Kronleuchters. Eine weitere Erinnerung blitzte in Pearl auf. Sie war sich zwar nicht sicher, aber sie hatte das bestimmte Gefühl, schon einmal auf diesem Schiff gewesen zu sein, als sie mit ihrer Mutter nach der im Panorama Hotel in Ceylon verbrachten Saison nach Australien zurückreiste. Sie konnte sich sogar an einige Stücke aus dem damaligen Repertoire erinnern: Shuffle Off to Buffalo , Sweet Georgia Brown , 42 nd Street . Ihre Mutter und sie hatten die gleichen goldschimmernden Roben und identische rote Perücken getragen.
    Von der Bühne aus konnte Pearl sehen, wie Blue sich gerade mit gesenktem Kopf am Ende der Schlange einreihte; er drehte ständig an einem Knopf seiner Jacke. Pearl streckte ihren Arm aus, und drei Schöpflöffel brauner Matsch landeten auf ihrem Teller. Dann folgte sie Charlie auf der anderen Seite der Bühne die Treppen hinab, und sie setzten sich an einen der langen Tische auf der ehemaligen Tanzfläche. Das Essen schmeckte scheußlich – es gab einen fettigen, lauwarmen Eintopf –, doch Pearl aß alles auf. Sie hatte noch nie im Leben einen Mann gesehen, den es irgendwie kümmerte, was er aß, und die meisten verschlangen Portionen, die doppelt so groß waren wie ihre. Währenddessen betrachtete sie unentwegt die Glaszeichnung der Frau in der Abendrobe, und dabei kam eine ferne Erinnerung bei ihr auf, eher wie ein Traumszenario als eine konkrete Vorstellung. Sie wurde gegen ein ähnliches Wandbild gedrückt und von einem Mann geküsst, der dreimal so alt sein mochte wie sie. Nachdem die letzten Gäste singend und schwankend den Raum verlassen und sich über den roten Teppich in den Gängen in ihre Schlafkabinen begeben hatten, wo sie sich noch einen letzten Whisky genehmigten, war ihre Mutter in der Bibliothek eingenickt. Da hatte ein indischer Steward seine Lippen auf Pearls Mund gelegt und seine Zunge so lange darin herumbewegt, bis sie dachte, sie würde ersticken. Daraufhin war sie aus dem Raum geflüchtet und hatte keiner Menschenseele jemals etwas davon erzählt.
    Am Nachmittag drehte Pearl zusammen mit Charlie mehrere Runden auf dem Schiff. Viele Soldaten beschäftigten sich damit, ihre Waffen zu reinigen und zu polieren, andere vergnügten sich mit Armdrücken oder machten Liegestütze. Für regelrechten militärischen Drill war das Schiff einfach zu stark belegt. Darüber war Pearl heilfroh, da sie sich noch nicht vorstellen konnte, wie sie so eine harte Übung überstehen sollte. Wenn es dazu kommen sollte, konnte sie nur darauf hoffen, dass es ihr gelang, es den anderen so schnell wie möglich gleichzumachen.
    Die ganze Luft war erfüllt vom Geruch des Meeres, es stank mittlerweile aber auch überall nach Erbrochenem, weil sich die Soldaten reihenweise über die Reling lehnten und sich übergaben. Mehr war nicht erlaubt, ansonsten war es streng verboten, irgendetwas über Bord zu werfen, denn der Feind sollte nicht anhand einer Müllspur die Verfolgung aufnehmen können. Einige Männer unterhielten sich über die Wahrscheinlichkeit, von einer Bombe oder einem Torpedo der Japaner versenkt zu werden. Die meisten hielten die Chancen für ziemlich hoch.
    Als die Dämmerung am Horizont hereinbrach, wurden alle Mann an Deck über Lautsprecher aufgefordert, jedes Feuerzeug, jedes Streichholz und jede Zigarette auszumachen, und zwar bis auf ausdrücklichen Widerruf am darauffolgenden Morgen. Aus Platzmangel mussten viele Soldaten an Deck oder auf dem Boden im Ballsaal übernachten. Eine Einheit übernachtete sogar auf dem Kachelboden des entleerten Schwimmbeckens.
    Nach dem Abendessen gingen Pearl und Charlie zu Blue in die winzige Kabine, der nackt bis auf die Unterhose in seiner Hängematte lag und bereits schlief. Charlie gähnte, zog sich ebenfalls bis auf die Unterwäsche aus und kletterte in die mittlere. Pearl schloss sich im Badezimmer ein. Der Anblick

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