Bis ans Ende des Horizonts
ihres kurz geschnittenen Haares schockierte sie nach wie vor – dadurch sah sie ihrem Bruder wirklich zum Verwechseln ähnlich. Sie putzte sich die Zähne, zog Stiefel und Gamaschen aus, und dann – was soll’s?, dachte sie – öffnete sie den Gürtel und ließ die Hose nach unten fallen. Zum Glück hing ihr Martins Hemd so weit herunter, dass es ihren Schoß bedeckte; man konnte also nicht so ohne Weiteres erkennen, dass ihr an dieser Stelle etwas fehlte.
Pearl kehrte in die Kabine zurück und schaltete das Licht aus. Sie hatte den ersten Tag überstanden, ohne entdeckt zu werden, aber sie war sich darüber im Klaren, dass jeder weitere Tag wesentlich schwieriger und riskanter sein würde. Sie versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass sie auf ihren getrennten Fahrten nach Neuguinea nicht allzu weit von James entfernt war.
»’Nacht«, sagte sie in absichtlich etwas barschem Ton, als sie in ihre sacht hin und her schwingende Hängematte kletterte.
Am zweiten Tag auf dem ehemaligen Ozeandampfer ließ der befehlshabende Offizier des Musikkorps, Art Rudolph, seine Musiker zu einer Evakuierungsübung antreten. Die Besatzung ließ graue Rettungsboote zu Wasser. Ihnen wurde eingeschärft, dass sie unter keinen Umständen direkt ins Wasser springen durften. Im äußersten Notfall musste das Schiff über Seile verlassen werden, die zu Übungszwecken jetzt zwischen höher gelegenen und niedrigeren Decks angebracht waren. Als sie es zum ersten Mal versuchte, verlor Pearl den Halt und rutschte auf die breiten Schultern des Schlagzeugers der Band, woraufhin beide auf das untere Deck purzelten.
In der übrigen Zeit spazierte sie mit Charlie und Blue über die dicht besetzten Decks. Sie erzählten sich gegenseitig Anekdoten und Witze und hielten nach feindlichen U-Booten Ausschau. Eines Nachmittags beobachteten sie einen großen dunklen Gegenstand in etwa zweihundert Metern Entfernung in der Dünung unter der Wasseroberfläche. In diesem Augenblick ertönte der Alarm, und die zur Selbstverteidigung montierten Geschütze wurden bemannt. Kurz darauf durchbrach ein Wal die Wasseroberfläche, seine Fluke schnellte empor, ehe er wieder in den Tiefen des Ozeans versank.
Art Rudolph setzte für den dritten Nachmittag auf See ein Konzert an. Zuvor gab es eine ziemlich flüchtige Probe im Speisesaal, bei der allerdings kaum etwas gespielt wurde. Rudolph ging die Arrangements eher mündlich durch. Anschließend verließen die Musiker den Saal und versammelten sich auf einem der niedriger gelegenen Decks im Schatten eines Schornsteins. Pearl klemmte ihre Notenblätter am Notenständer fest, damit sie nicht wegflogen. Bisher war es ihr gut gelungen, ihrem Bruder nicht nur vom Aussehen her zu gleichen, sondern sich auch so wie er zu verhalten und zu reden. Nach dem Aufstehen hatte sie unauffällig die Klinge aus Martins Rasierapparat entfernt, doch sie hatte sich die Wangen und das Kinn eingeseift und bei demonstrativ geöffneter Badezimmertür so getan, als würde sie sich rasieren. Wenn sie eine selbstgedrehte Zigarette rauchte, ließ sie sie an der Unterlippe baumeln; ein bisschen Spucke beim Zusammendrehen sorgte für den »Klebstoff«. Wenn sie mit Flakschützen Karten spielte, stützte sie die Ellbogen auf ihre weit gespreizten Knie. Und natürlich machte sie wie alle anderen auch reichlichen Gebrauch von Flüchen und Schimpfwörtern. Doch sie hatte seit fast einem Jahr nicht mehr richtig Jazz gespielt. Verglichen mit ihrem eigenen Altsaxofon war Martins Tenorsaxofon schwerer, der Abstand zwischen den Tasten war größer und das Mundstück etwas breiter. Außerdem hatte sie nur sehr wenig Erfahrung mit dem Spielen im Freien; bisher war sie nur an die perfekte Akustik im Trocadero gewöhnt. Dennoch war sie froh und erleichtert, wieder Teil einer Band zu sein. Als die Musiker ihre Instrumente stimmten und jeder für sich kleine Passagen aus Musikstücken probte, durchlief sie ein Schauer der Vorfreude. Einige Musiker hatten sich auf Munitionskisten gesetzt, doch die meisten lehnten sich in ausgeblichene Liegestühle, die hier und da noch herumstanden aus der Zeit, als das Schiff ein Luxusliner war. Rudolph fuchtelte mit seinem Taktstock herum und zählte zum Einsatz von Benny Goodmans Stealin’ Apples , einem Stück, das nicht allzu schwierig war, weil der Hauptakzent auf dem Klavier lag und die Blechbläser eigentlich nur den Generalbass spielten. Nur im zweiten Teil kamen ein paar schnelle, synchronisierte
Weitere Kostenlose Bücher