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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Sayer
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halten verlieh einem ein eigenartiges Gefühl von Macht. Sie richtete den Gewehrlauf auf das offene Fenster, zielte auf die Palme draußen und wiederholte ein paarmal »Peng! Peng! Peng!«
    Nach dem Mittagessen verschwand Pearl mit dem Gewehr in der einen und dem Saxofon in der anderen Hand in dem hinter dem Hotel gelegenen Garten. Sie hoffte, eine Weile für sich sein zu können. Dass es so aussichtlos erschien, James’ Aufenthalt herauszufinden, bedrückte sie. Pearl versuchte sich von Ärger und Enttäuschung nicht überwältigen zu lassen.
    Sie fragte sich, wie verrückt sie eigentlich gewesen war, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen. Heute wäre sie wohl nicht mehr so leichtfertig, den eigenen Bruder zu so einem verrückten Rollentausch zu überreden, und sie konnte sich kaum mehr vorstellen, dass sie derselbe Mensch war, dem das noch vor einer Woche ein so großes Anliegen war, dass es ihr sogar gelang. Allein der Gedanke an ihre Leichtsinnigkeit und die bloße Gefahr für Leib und Leben, der sie sich mutwillig ausgesetzt hatte, schien ihr jetzt unbegreiflich. Im gedämpften Sonnenlicht versank sie wie betäubt in eine wirre Art von Fassungslosigkeit. Schweißperlen rollten ihr über Schläfen und Wangen und tropften ihr vom Kinn. Ein Eisvogel zwitscherte auf einem Palmfarn. Pearl hatte jegliches Zeitgefühl verloren, doch dann kam ein großer gelber Schmetterling mit schwarz geränderten Flügeln von den Zweigen eines Baumes im Garten angeflattert und ließ sich kurz auf ihrer Hand nieder. Er war so schön und kam so unerwartet, dass Pearl überzeugt war, es würde bald etwas Gutes geschehen. Sie wischte sich den Schweiß aus den Augenbrauen, atmete tief durch, griff nach dem Saxofon ihres Bruders und begann im letzten Tageslicht damit, Tonleitern zu üben.
    Früh am nächsten Morgen hatte Rudolph vor dem Hotel zwischen den verwelkten Palmen eine Exerzierübung angesetzt. Pearl stand in Habachtstellung neben Charlie und gehorchte den von dem Offizier gebrüllten Befehlen: salutieren, kehrtmachen, das Gewehr präsentieren – sie ließ es im Übrigen nur einmal fallen, als sie um das Gebäude herummarschierten. Zum Glück waren die anderen Musiker auch nicht sehr viel besser als sie. Entweder übersah Rudolph ihre wenigen Fehler oder er nahm davon absichtlich keine Notiz.
    Nach dem Frühstück schnappten sich alle ihre Instrumente und bestiegen einen Bus, der durch die schlammverdreckten Straßen von Port Moresby rumpelte, vorbei an Holzhäusern und Hütten, die mit Einschlaglöchern und Splittern übersät waren. Die erste Vorstellung des Musikkorps sollte in einem etwa dreißig Kilometer entfernten Lazarett oben in den Bergen stattfinden. Pearl hatte seit ihrer peinlichen Vorstellung an Bord täglich stundenlang geübt und sich mittlerweile an den Griff um das größere Instrument gewöhnt, aber es war inzwischen schon lange her, dass sie auf einer Bühne gestanden hatte, weshalb sie unterwegs reichlich Lampenfieber bekam. Außerhalb der Stadt wand sich die Straße sanft bergauf durch grüne Felder, in die etliche Start- und Landebahnen hineinbetoniert waren; ab und zu flog ein alliiertes Flugzeug so dicht über ihre Köpfe hinweg, dass bei dem Lärm alle zusammenzuckten. Manchmal musste der Bus Bombentrichter umfahren oder sich einen Weg durch überflutete Schluchten bahnen. Als sie höher hinauf ins Gebirge kamen, setzte Regen ein, und einer der Scheibenwischer ging kaputt, was die Fahrt noch weiter verlangsamte.
    Zur Mittagszeit kamen sie auf einer großen Lichtung an, auf der etliche Zelte und einige Hütten im Eingeborenenstil mit palmwedelgedeckten Dächern standen. Es gab eine größere Schutzhütte, lediglich ein Dach auf Pfosten ohne Wände. Der Lehmboden war mit Brettern belegt, und dort saßen bereits rund ein Dutzend bandagierte Soldaten; die meisten rauchten und warteten auf den Beginn der Vorstellung. Ein paar andere kamen langsam auf Krücken herbeigehumpelt. Pearl sah genauer hin und konnte dabei erkennen, dass einige Krücken aus Zweigen und Ästen fabriziert waren.
    Während die Musiker aus dem Bus stiegen, erblickte sie auf einer erhöhten Plattform einen großen schwarzen Soldaten, der mit schussbereitem Gewehr Wache stand. Seine Uniform war schlammverkrustet. Pearl entfernte sich sogleich von ihrer Gruppe und rannte auf ihn zu.
    Als sie die Wachplattform erreichte, drehte sich der Soldat zu ihr um und schaute auf sie hinunter. Von Nahem erkannte sie sogleich, dass sein Gesicht zu

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