Bis auf die Haut
wie eine Kerze.
29. Lektion Freunde gibt es im Leben zu wenige, als daß man sich ihrer aus welchen Gründen auch immer entledigen sollte – immer vorausgesetzt, es sind wahrhaftige Freunde
Die Türklingel platzt viel zu laut in deinen Vormittag hinein. Du bist noch im Bett. Der Türsummer ist kaputt; um nachzusehen, wer es ist, musst du drei Stockwerke hinunterlaufen und die Haustür öffnen. Du machst dich in deinem alten Bademantel, ohne dein Gesicht, auf den Weg.
Theo. Rote Lippen, rote Bluse, rot wie Blut. Auf dem Weg zur Arbeit.
Du machst die Tür zu. Das ist doch lächerlich, sagt sie, komm schon, wir müssen miteinander reden. Du stemmst dich mit ausgestreckten Armen gegen die Tür. Können wir nicht einfach miteinander reden, fleht sie. Erst klopft sie, dann trommelt sie mit den Fäusten gegen die Tür, ihre Schläge vibrieren unter deinen Handflächen. Du richtest dich auf und steigst die Treppe hoch, ohne dich umzublicken; deine Finger liegen zitternd auf deinen Lippen.
Theos Verrat hat Größe, ist erstaunlich, unbegreiflich. Ihr Verhalten ist es, was du nicht fassen kannst, nicht das von Cole. Du hast immer angenommen, sie wäre der einzige Mensch, der dich dein ganzes Leben lang begleiten würde, was für deine Mutter oder deinen Mann möglicherweise nicht gilt. Sie ist eine Frau, sie kennt die Regeln. Männer kennen sie nicht. Du bist an einer Entschuldigung nicht interessiert, denn die Sache lässt sich durch nichts aus der Welt schaffen; was immer sie vorbrächte, wäre bedeutungslos neben ihrem unerhörten Treuebruch und deinem schreienden, mit Füßen getretenen Herzen.
Du kannst die Vorstellung, wie es die beiden zusammen treiben, nicht ertragen. Du hast keine Ahnung, wie sich Theo benimmt, wenn sie mit einem Mann allein ist. Welche Strategien sie entwickelt, ob sie sich in eine andere verwandelt, ob ihr Auftreten, ihre Stimme sich verändern. Um diese Seite deiner Freundinnen hast du immer einen diskreten Bogen gemacht. Du weißt nur, dass dein Mann in ihren hungrigen Sog geraten ist, seine Stimme hat es dir verraten.
Theo versucht immer wieder Verbindung mit dir aufzunehmen, aber du legst den Hörer auf, egal, wie schnell ihre Worte hervorprasseln, du löschst ihre E-Mails, ohne sie zu öffnen, zerreißt ihre Briefe. Leute von dir abschütteln konntest du immer gut, ein kleines, aber wirkungsvolles Talent; du machst einen klaren Schnitt und lebst dein Leben weiter. Theo hasst es, ignoriert zu werden. Davor hat sie am meisten Angst. Ein eigenartiges Machtgefühl überkommt dich, deine extreme Passivität macht dich stark; nur so kannst du protestieren, deine Verweigerung zum Ausdruck bringen. Wie manchmal auch beim Sex.
30. Lektion Alte Arzeneymittel bewahre man nie auf, da sie selten ein zweites Mal benöthiget werden und bald verderben
Cole braucht dich für eine Party. Sie findet bei einem Galeristen statt, der ein restaurierungsbedürftiges Bild besitzt, eine venezianische Landschaft von einem Schüler Canalettos. Cole ist ganz scharf darauf, er hat den Verdacht, dass sich darunter etwas vom Meister selbst verbergen könnte. Du willst nicht hin, bist noch zu keinen Zugeständnissen bereit.
Bitte, sagt Cole.
Ich hasse solche Veranstaltungen. Das weißt du doch.
Simon mag dich. Ich brauche diesen Auftrag.
Du weißt, welche Art von Ehefrau Cole dafür benötigt. Er hat dir einmal gesagt, dich könne man überall gut mitnehmen. Alle mögen dich, finden dich lieb und nett, plaudern gern mit dir. Das bedeutet im Klartext, dass sie Cole bewundern, er zeigt seinen Besitz vor, wie ein Auto, eine goldene Uhr oder einen Anzug; du rundest das Bild vom erfolgreichen Mann ab. Du warst geschmeichelt, als er dir das sagte: so sehr geschätzt zu werden. Auf Partys bringt ihr immer das Beste im anderen hervor; eure Sätze ergänzen sich, wenn ihr Anekdoten erzählt, und bei Einladungen bei euch seid ihr ein eingespieltes Team beim Kochen, Servieren und Abräumen. Ihr beherrscht es beide hervorragend, das glücklich verheiratete Paar zu spielen, baut euch gegenseitig auf und gebt euch Rückendeckung.
Bitte
, bedrängt er dich noch einmal.
Schon gut. Schon gut.
Du fasst dir an den Hals. Immer gibst du nach, hast dein ganzes Leben lang nachgegeben, weil du es immer so verdammt nötig hattest, geliebt zu werden.
Ein ehemaliges Kutscherhäuschen, zwei Straßen von eurer Wohnung entfernt. Gedränge im Raum; der hoch gewachsene Simon ragt aus der Schar seiner Gäste heraus. Er misst seinen Erfolg an
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