Bis auf die Haut
uns schuldig machen können, es sey denn, wir sind auch zu schenken imstande
Der ältere Mann, der sich um die Rosen kümmert, öffnet dir mit einer Verbeugung und dem ihm eigenen sanften Lächeln die Tür zu deinem Zimmer. Er hat dir galant eine einzelne Rose überreicht und du hast sie mit Anmut entgegengenommen, ein Spiel, das sich zu einem ernsten Ritual entwickelt hat. Die Blütenblätter sind dunkelrot, fast schwarz; du tauchst deine Nase in die unregelmäßige Blüte und riechst den ungezähmten, vollen Gartengeruch, den du aus deiner Kindheit kennst, das ist nicht dieser dünne, wie künstlich erzeugte Dufthauch aus den Knospen, die man im Supermarkt bekommt. Du betrittst lautlos den Raum, du möchtest Cole überraschen, er wird dich aufs Bett werfen und in den Kniekehlen lecken, bis du quiekst, wird dich auf seine besondere Art küssen, und du wirst dahinschmelzen, dich unterwerfen, obwohl du immer noch menstruierst. Sexy Sex, hmmm, schmuddelig, spontan, unartig, das habt ihr schon so lange nicht mehr gemacht. Der Himmel taucht den Raum in Dämmer, du schmeckst den Donner draußen und reckst ihm dein Kinn entgegen. Cole telefoniert. Du bist verstimmt, er sollte auf dieser Reise keinen Strich arbeiten, das hat er dir versprochen.
Ich kann’s kaum erwarten, hier wegzukommen, die Hitze treibt mich zum Wahnsinn, und er sagt es mit seiner besonderen Stimme, der für
dich
bestimmten Stimme, doch klingt in ihr noch eine Verspieltheit, eine Leichtigkeit mit, ein Ton, den du schon so lange nicht mehr gehört hast. Sie hat nichts anderes im Kopf, als auf Märkte zu rennen und in diesen verdammten Eselskarren rumzukutschieren, ich kann das nicht ausstehen, es ist so langweilig, ich will einfach entspannen. Pause. Diz, Diz, nein, das kannst du nicht. Kichern. Jaaa, ich auch. Wir sehen uns bald, Gott sei Dank.
26. Lektion Luft. Durchzug. Sauerstoff
Du bist ganz still. Du gehst an Cole vorbei, ohne ihn anzusehen. Du gehst durch die Tür auf die Veranda und lässt dich mit größter Vorsicht auf den Korbstuhl sinken.
Dein Herz klopft. Dein Herz klopft so sehr.
Du sitzt sehr lange dort, lautlos, in der dichten Stille nach dem Sturm. Und schließlich schält sich die Sonne schwach aus den Wolken und es hat nicht abgekühlt, um kein bisschen, es ist so heiß wie zuvor.
II
Meine Seele harrt auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen, die Wächter auf den Morgen
Psalm 130 , 6
27. Lektion Die Senkgrube sollte nicht unmittelbar an das Wohnhaus anschliessen
Der Montag nach der Rückkehr aus Marrakesch. In einem Lokal in Soho, allein. Ein altes Londoner Steakhaus, dessen schaumstoffgepolsterte, in Plastik eingeschweißte Speisekarte Toast mit weißen Bohnen in Tomatensauce und Teebeuteltee in Edelstahlkännchen offeriert, du tust, als würdest du Zeitung lesen.
Wie ein Wesen, dem die Haut abgezogen wurde.
Ich kann’s dir nicht erklären, hat er immer wieder gesagt, wobei es ihm die Röte ins Gesicht trieb. Als du ihn immer wieder gefragt hast. Du machst aus einer Mücke einen Elefanten, hat er jedes Mal gesagt. Sie ist eine Freundin,
unsere
Freundin, wir sind nur ab und zu einen trinken gegangen. Und dann verstummt er, ist wie zugeknöpft. Als wäre das, was er zu sagen hätte, unaussprechlich, käme ihm niemals über die Lippen. Aber du lässt nicht locker.
Nur eine Freundin. Ach, so ist das.
Und du lehnst dich zurück und verschränkst die Arme vor der Brust bei diesen dürren, völlig unzureichenden Erklärungen, die er dir hinwirft wie ein paar abgenagte Knochen.
Wieder in diesem Lokal in Soho. Du willst dich vor der Welt verkriechen, dich zusammenringeln, willst fliehen vor der Leichtigkeit in der Luft, vor dem koketten Pink, das die Mädchen auf den Straßen tragen.
Und die ganze gottverdammte Zeit über hat er nie aufgehört, dir zu sagen, dass er dich liebt, aber das willst du gar nicht mehr hören. Eure Beziehung hat eine kalte Dusche abbekommen, du bist geschockt, frierst bis auf die Knochen.
Nur eine Freundin. Ach, so ist das.
Völlig unzureichend, sein Gestammel.
Jetzt weißt du es seit einer Woche; jetzt seit zwei. Alles und nichts hat sich verändert, du tust, als würdest du Zeitung lesen. Lieber dieses Lokal als die amerikanischen Coffeebars, die in letzter Zeit wie Pilze aus dem Boden schießen, auch wenn Cole mit Sicherheit entsetzt wäre über deine Wahl. Vorher hast du seine Vorlieben und Abneigungen deinen Tagesablauf formen lassen, sogar wenn er nicht da war. Aber jetzt bis
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