Bis auf die Haut
denn einen besitzet,
nie hinaus, wird die arme Kreatur bellen und elendiglich heulen
Cole hat ein Geschenk für dich. Er hat dir schon lange nichts mehr geschenkt, seit Marrakesch nicht mehr, als du Pralinen und Zeitschriften und Keramik aus den Souks von ihm bekommen hast. Du protestierst, musst aber trotzdem lächeln, denn das ist ein Zeichen für Tauwetter, für die Rückkehr zu einem lockereren Umgang miteinander. Ihr spürt beide, wie die Zeit die Dinge glättet.
Es ist ein Umschlag aus dickem Papier. Du lässt deine Finger unter die sahnefarbene Klappe gleiten.
Eine private Mitgliedschaft bei der London Library. Die Bibliothek der Autoren. Das ist einfach zu viel der Ironie, der absolute Volltreffer, der dir das Herz zerreißt – es quillt über vor hellem Jubel, aber auch vor Schuldgefühlen. Denn du weißt genau, wie du deinem Mann seine erpresserische Großzügigkeit danken wirst: Es besteht die Chance, die winzige Chance, dass in einer Autorenbibliothek ein Schauspieler sitzt, der
möglicherweise
für ein Drehbuch recherchiert.
Ich dachte, das könnte eine Art Startschuss sein, sagt Cole. Für dein Buch.
Ach ja, das Buch.
Denn du hast ihm einmal erzählt, dass du gern etwas mit deinem frechen Text aus dem siebzehnten Jahrhundert anfangen würdest. Das war auch der Grund, warum er dich so gedrängt hat, deine Arbeit aufzugeben – damit du etwas ausprobieren könntest, was du schon immer tun wolltest. Oder damit er dich einfach für sich haben könnte, wie du manchmal vermutest. Du hast ihm den Abschnitt gezeigt, in dem die Autorin darlegt, dass Frauen ja nicht des Vergnügens, sondern des Kinderzeugens halber heirateten; daraus folgert sie, bei Unfruchtbarkeit des Gatten sollte es seiner Gemahlin gestattet sein, mit gesunden Männern zu schlafen, die voll im Saft stehen. Ist das nicht köstlich, hast du Cole damals geneckt, und er packte dich fest am Arm und versetzte dir einen Klaps auf den Hintern, dass es brannte.
Ab in den Schrank, aber schnell.
Und du hast dich ausgeschüttet vor Lachen.
Du meintest, aus dem Text ließe sich ein Roman oder ein historisches Sachbuch machen. Cole von einem solchen Projekt zu erzählen gab dir ein gutes Gefühl, als bekäme dein eigenes Leben dadurch mehr Gewicht. Jetzt bist du dir gar nicht sicher, ob es dir jemals ernst damit war. Doch er hat es nicht vergessen.
Niemand außer deinem Ehemann weiß, was für ein Hasenfuß du im tiefsten Grunde deines Herzens bist. Im Lauf deines Erwachsenenlebens hast du deine Neugier und deine Fähigkeit zu staunen immer mehr abgelegt, dafür reiht sich nun ein zaudernder Aufschub an den anderen. Du hattest einmal so hochfliegende Pläne, aber das Leben ist dir immer wieder in die Quere gekommen. Dein Journalismusstudium hast du mit einem brillanten Examen abgeschlossen, aber dann hattest du keine rechte Lust, dich in eine Redaktion hineinzukämpfen. Du hattest Angst davor, Leute mit ungebetenen Anrufen belästigen zu müssen, wolltest nicht in ihrem Privatleben herumschnüffeln, hast immer an deinen Fähigkeiten gezweifelt. Das sollte jemand anders machen, hast du immer abgewehrt, wenn Kollegen vorschlugen, du solltest dich um eine Beförderung bemühen, warum ich? Du hast nie nach Gehaltserhöhungen gefragt. Du hast dich eingerichtet. Vor Kreativität, Höhenflügen, Wagnissen bist du immer zurückgescheut, hattest nie den Mut, deinen Träumen eine Chance zu geben.
Und jetzt hältst du den Umschlag an die Lippen, lächelst und küsst deinen Mann auf die Stirn. Morgen wirst du in die Bibliothek gehen, du sagst ihm, sein Geschenk wäre einfach perfekt. Du sagst ihm nicht, dass du nach einem Mann mit einem sehr gut sitzenden Anzug und einer schönen Nackenlinie Ausschau halten wirst. Denn Cole umwirbt dich mit Aufmerksamkeit und du möchtest dich dankbar zeigen.
Doch etwas Irres hüpft und tanzt in dir, Grund zum Jubeln und für Schuldgefühle.
Du weißt genau, was Theo an deiner Stelle täte. Und dein keckes Eheweib aus dem siebzehnten Jahrhundert? Hat sie jemals nach ihren Maximen gehandelt? Du fragst dich, ob sie so mutig war oder so dumm. Ob sie so selbstsüchtig und kühn ihren eigenen Lüsten frönte.
45. Lektion Hülf dir selbst, dann hülft dir Gott
Die London Library lässt die Zeit stillstehen, sie zieht dich in ihre reichen, dunklen Tiefen hinein, die dich verschlingen und gefangen halten. Im Raum mit den alten Enzyklopädien findest du einen Platz zum Schreiben; dort gibt es diskret im Fußboden versenkte
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