Bis auf die Haut
oder Freundes aufgefordert zu werden
Deine Mutter ist am Telefon. Theo hätte bei ihr angerufen.
Tatsächlich? Und warum?
Ich weiß nicht. Sie wollte nur ein bisschen mit mir plaudern. Hat sich an meinen Geburtstag erinnert.
Ich hab schon eine ganze Weile nicht mehr mit ihr gesprochen.
Das hat sie mir erzählt.
Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung.
Auch das hat sie mir erzählt. Worum ging’s denn?
Ach, dies und das. Ich fühlte mich einfach ein bisschen bedrängt von ihr. Sie nahm mir die Luft weg.
Vielleicht gar nicht so schlecht. Die Menschen kommen und gehen. Ich fand sie als Freundin immer unheimlich anspruchsvoll. Mir wäre sie zu anstrengend gewesen, das weißt du ja.
Die Vorbehalte deiner Mutter Theo gegenüber waren oft der Auslöser für einen weiteren heftigen Streit zwischen euch, aber jetzt erkennst du, wie Recht sie hatte. Deine beste Freundin besaß zwar hohen Unterhaltungswert, hatte aber auch ihre Kehrseite: ihre ständigen Anrufe, ihre Eifersucht bei jedem neuen Lover, jeder neuen Freundin; am erstickendsten aber war ihre beharrliche Einmischung in dein Leben. Deine Mutter hatte Theo schon im Alter von dreizehn Jahren in die Kategorie »erdrückend« eingestuft und die Schulleitung darum ersucht, euch beide zu Beginn des neuen Schuljahres in getrennte Klassen einzuteilen; vor Wut über ihre Einmischung hast du einen Monat lang nicht mit ihr gesprochen.
Sie hat mir erzählt, dass Tomas und sie jetzt versuchen, ein Baby zu bekommen, sagt sie jetzt, da euer Gespräch nicht richtig in Schwung kommt.
Ach ja?
Sie wollte, dass auch du das weißt.
Aha.
Theo wird also wieder mal als Erste in die Zielgerade einbiegen. Das hat sie immer gemacht, angefangen bei ihrer Periode, die sie mit elf Jahren bekommen hat, über den Verlust ihrer Jungfräulichkeit bis zur Hochzeit. Und jetzt auch noch das. Warum wollte sie dich informieren? Damit du weißt, dass etwas anderes vorbei ist?
Du hast deiner Mutter nichts von der Geschichte zwischen Cole und ihr erzählt, hast dich vor dem wissenden Klang ihrer Stimme gefürchtet oder wolltest vielleicht auch allein damit klarkommen. Jetzt lohnt es sich nicht mehr, du hast die Sache schon hinter dir gelassen. Die Wut in dir lässt endlich nach wie ein verglimmendes Feuer; sie ist schon fast erloschen.
77. Lektion Regeln für die Auswahl
Während der Herbst das Licht immer stärker zurückdrängt, schlaft ihr manchmal nur, du und Gabriel, weiter nichts, mehrere Stunden lang. Haut an Haut und dein Lächeln, seine Wärme. Und wenn du so daliegst, denkst an den nächsten Schritt, der jetzt vielleicht kommt: Gruppen von Männern, anonymer Sex, Frauen.
Wo hört das auf, denkst du.
Du kannst dir nicht vorstellen, wie du diesen Nachmittagen ein Ende setzen sollst, aber eines Tages wirst du es tun müssen. Du hast Angst, dass sich schon jetzt etwas anderes daraus entwickelt, du spürst, wie sich immer stärkere Fäden zwischen euch spannen. Am ersten November wäscht dir Gabriel in der Badewanne die Haare und dann wäscht du ihm seine, danach hältst du ihn so zärtlich, so ruhig in deinen Armen und staunst über alles, was in den letzten Monaten geschehen ist, über den Sommer, der so ganz anders war als der davor. Du hast geliebt wie nie zuvor, du warst nie fähig, so viel zu geben oder dich so hinzugeben. Beim Sex mit Gabriel hast du dich verjüngt, hast vollkommen losgelassen und zum ersten Mal im Leben einem anderen Menschen dein wahres Ich gezeigt: eine Frau, die dich in Erstaunen versetzt, dich aber auch erschreckt. Eine fordernde, selbstsüchtige, sprühende Frau, die ihr Leben selbst bestimmt. Gabriel gibt dir das Gefühl, dass du eine wunderbare Geliebte bist, er hat dir Selbstvertrauen geschenkt.
An diesem Punkt seid ihr also angelangt, aber keiner von euch spricht darüber, wie es weitergeht. Auf dem Heimweg in der U-Bahn denkst du an die Laute, die aus dir herausbrechen und die du noch niemals von dir gegeben hast, daran, wie sich dein Rücken wölbt und wie sich deine Hand ins Laken krallt. Doch dann schließt du die Haustür auf, Punkt sechs, du verspätest dich nie. Und jede Nacht drängt sich Cole an dich, mit seinem Arm oder einer Pobacke oder seinem ganzen Rücken – jeden Abend spürst das Gewicht seines erschöpften, vertrauensvollen Körpers. Du schätzt deinen Mann immer noch sehr: Du willst nicht, dass alles, was er für dich darstellt, aus deinem Leben verschwindet. Du liegst wach und suchst nach einer Möglichkeit, wie alle deine
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