Bis auf die Haut
er fordert von dir keine sexuellen Gegenleistungen, das hat ihm niemand beigebracht. Er ist dein erster völlig selbstloser Liebhaber, der nicht von dir verlangt, auch ihn mit dem Mund zu befriedigen, mit ihm erlebst du ganz uneigennützigen, femininen Sex.
Deine Orgasmen werden immer intensiver, überstürzen sich in Kaskaden, bis du ihn fast schon wegstoßen musst, sobald seine Zunge deine Haut berührt. Dann presst du dir die Finger zwischen die Schenkel, versuchst deinen Orgasmus aufzuhalten, zu verlangsamen, vergräbst dein Gesicht ins Kissen und erstickst die Laute, die du vor dieser Explosion am Ende deines Rückgrats noch nie von dir gegeben hast.
Du fühlst dich so unglaublich lebendig, aufgewacht nach Jahren der Apathie, bis du fast schon beim Begrüßungskuss kommst oder wenn du seine Stimme am Telefon hörst.
Manchmal fragst du dich, ob es Gabriel wirklich gefällt, dich zu lecken, denn ein Kollege hat einmal durchblicken lassen, dass der Geschmack einer Frau immer einen Würgreiz bei ihm hervorruft, dass er nie eine Frau gekannt hat, deren Geruch er mochte, obwohl jede anders riecht. Aber du bist schon süchtig, und viele Nachmittage verbringt er zwischen deinen Schenkeln, bis ihre Innenseiten flattern und du ihn anbettelst aufzuhören, denn es ist unerträglich lustvoll, grenzt schon an Schmerz, du kannst es kaum noch ertragen. Und trotzdem macht er weiter, als wollte er die Erinnerung an jeden anderen Sex, jeden anderen Mann in dir auslöschen, und die Lust überschwemmt dich, du kenterst, gehst unter, ertrinkst.
Du drückst ihm einen weichen Kuss in die Grube seines Nackens, auf die blasse Stelle hinter seinem Ohr, du atmest seinen Duft tief ein, kniest dich hin, bringst ihn zum Schwellen. Jetzt willst du ihm genauso viel zurückgeben, ihn genauso von Empfindungen überwältigt sehen, wie du selbst es warst.
So sehr hast du dich verändert.
Und jede Woche fragst du dich auf dem Heimweg in der U-Bahn, wo das alles enden wird, wie viel du von ihm noch verlangen kannst. Denn alles andere auf der Welt wird von dieser höchsten Lust am Ende deines Rückgrats ausgelöscht, dein ganzes anderes Leben ist wie weggewischt. Keiner von euch redet von Cole, von euren Familien, von der Zukunft, weil ihr im Moment den Gedanken, dass es vielleicht einmal aufhören muss, noch nicht ertragen könnt.
74. Lektion Sobald du erwachsen bist, solltest du nicht später als um 10 Uhr zu Bette gehen und um 5 oder 6 Uhr früh dein Tagwerk beginnen
Du rufst deine Mutter an. Sie hat heute Geburtstag; du hast ihr wunderschöne, handgearbeitete spanische Reitstiefel geschickt, ein viel zu kostspieliges Geschenk, aber du fühlst dich in deinem neuen Leben großzügig und beflügelt.
He, du klingst großartig, sagt sie.
Ja, so fühl ich mich auch. Ich bin entspannt und bewege mich viel.
Es brennt dir unter den Nägeln, ihr von Gabriel zu erzählen, aber wenn jemand etwas erfährt, gibst du die Zügel aus der Hand; du weißt nie, ob dieses Wissen nicht einmal gegen dich verwendet werden könnte.
Nur weiter so, mein Schatz, sagt sie zum Abschied. Es tut dir gut.
Du lächelst. Holst ein altes Foto vom Kaminsims herunter. Deine Mutter an einer Ausgrabungsstätte in der Wüste Gobi, in einer Hand den Eimer, in der anderen den Spaten, ihre Augen blinzeln gegen die Sonne, Haarsträhnen hängen ihr ins Gesicht. Früher als Kind hast du ihr lautes, lockeres Leben gehasst: Sie lief nackt im Haus herum, schubste dich hinaus, weil du Erfahrungen in der Welt sammeln solltest, schleppte dich zu endlosen Essen ins Restaurant mit, um dir wieder einen ihrer Männer vorzustellen.
Jetzt erkennst du, dass deine Mutter immer genau das getan hat, wozu sie Lust hatte, und es Mitte fünfzig immer noch tut. Sie lebt jetzt männerlos glücklich, ihr bewegtes Leben schließt manchmal ein, dass sie sich bis drei Uhr früh einen alten Schwarzweißfilm ansieht und bis mittags schläft und zum Frühstück nur Tee zu sich nimmt und sonst nichts. In ein Flugzeug springt, das sie zu einem unverhofften Fossilienfund bringt, und einen Tag vorher bekannt gibt, dass sie jetzt einen Monat lang verschwindet. Sich nur widerwillig zu einer Verabredung mit einem Mann herbeilässt. Weil sie vor den möglichen Folgen zurückschreckt: dass irgendjemand ihr Leben teilen möchte.
Männer sind alle so langweilig, sagt sie. Die wollen doch nur über sich selber reden. Oder dich versetzen. Mit einer Freundin gehe ich viel lieber aus als mit einem Mann.
Die meisten
Weitere Kostenlose Bücher