Bis auf die Haut
Baby vernichten.
Sei still sei still
sei still
, schreit er.
In diesem Augenblick erkennst du, warum Ehemänner sich mit dem Auto die Klippen hinabstürzen und ihre Kinder mit Abgasen vergiften.
Das Baby, das Baby, ist alles, was du sagen kannst, du zerrst an seinen Armen und versuchst ihn abzuschütteln, das Baby, das Baby.
Cole stellt dich wieder ab. Er stemmt sich mit beiden Armen gegen die Wand, als müsse er sie stützen, und lässt den Kopf tief hängen. Du kannst sein Gesicht nicht sehen. Du gehst zum Sofa hinüber und setzt dich hin. Du schließt die Augen.
Die Stille im Raum ist zum Schneiden.
Dann fragst du Cole, ob er je am Köpfchen eines Babys gerochen hat, du weißt auch nicht, warum du ihn das fragst und wie das Gespräch von hier aus weitergehen soll, aber plötzlich erfüllt dich eine ungeheure Traurigkeit, wie ein Glas bist du randvoll davon. Er schaut dich nicht an, sagt nur, du sollst nicht so dämlich fragen, warum zum Teufel sollte er jemals am Köpfchen eines Babys gerochen haben.
Ich weiß auch nicht, keine Ahnung. Deine Stimme versiegt.
Du bist eine grässliche Person, sagt er.
Und du weißt, dass das der Wahrheit entspricht.
Cole geht aus dem Zimmer. Du rührst dich nicht. Du wünschst dir so sehr, du könntest deine Worte wieder in dich zurücksaugen wie eine Kaugummiblase. Aber die Blase ist zerplatzt, deine Worte kleben in deinem Gesicht und an deiner Ehe und du weißt nicht, ob sie sich jemals wieder abkratzen lassen.
110. Lektion Man kann nicht zu sehr davor warnen, falsche Arzeneymittel zu verabreichen
Cole geht zur Wohnungstür hinaus und knallt sie zu. Das Geräusch tut dir in den Ohren weh. Er hat noch nie Türen zugeschlagen.
Eine Stunde später ist er zurück. Er geht direkt ins Schlafzimmer, ohne dich im Wohnzimmer zur Kenntnis zu nehmen, und du schaust nicht nach ihm, reagierst nicht, zuckst aber jedes Mal zusammen, wenn er mit Schranktüren und Schubladen knallt. Du zuckst zwar zusammen, wendest aber keinen Blick vom Fernseher. Er redet nicht mit dir. Solche Spielchen wie »nicht miteinander reden« hat er noch nie gespielt. Die Haustür fällt ins Schloss.
Stille in der Wohnung. Du gehst ins Schlafzimmer. Verschaffst dir einen Überblick, was er mitgenommen hat. Alle wichtigen Dinge: Wecker, Terminkalender, die Manschettenknöpfe seines Großvaters, das Ladegerät seines Handys.
Wie es klopft, dein Herz.
Du setzt dich aufs Bett, die Stille lastet schwer auf dir. Sehr lange sitzt du so da, und irgendwann in dieser langen, langen Nacht stürzt du ans Fenster, das turmhohe, schaust auf den Gehweg tief da unten und denkst, dass nun alles Sichere, Solide aus deinem Leben verschwunden ist. Du atmest die Nachtluft in tiefen, krampfartigen Zügen ein. Starrst zur Straße hinunter. Keine Menschen, keine vorbeifahrenden Autos, kein Leben, alles ist still.
Du setzt dich aufs Bett zurück. Du hörst die Stille summen, während der Rest der Welt warm im Bett liegt und schläft.
Die Einsamkeit ist fast unerträglich.
Das hast du nun also davon. Schwanger und mutterseelenallein sitzt du auf der Bettkante. Du hast das Gefühl, es ist alles deine Schuld. Was du mit Gabriel getan hast, empfindest du zum ersten Mal als Treuebruch. Du hast so lange Entschuldigungen dafür gefunden, denn schließlich warst es ja nicht du, der als Erster mit dem Vorschlaghammer auf eure Ehe losgegangen ist.
Aber jetzt ist Cole fort und dich fröstelt; was du getan hast, war dumm und zerstörerisch. Deine Kehle ist wie zugeschnürt, beim Andrang der Tränen presst du die Lippen fest zusammen.
Du rufst Cole auf dem Handy an. Er hat es ausgeschaltet.
111. Lektion Jedes Mädchen sollte um seiner Gesundtheit willen sein Bett machen und sein Zimmer reinlich halten
Am nächsten Tag kein Anruf. Du rufst in Coles Büro an, um dich nach ihm zu erkundigen, tust so, als ginge es um Geschäftliches. Er ist nicht dort. Du hinterlässt deine Handynummer. Niemand ruft zurück.
Das Baby reckt und windet sich in dir, ahnungslos und glücklich wie eine Robbe. Du stellst dir vor, dass du es jetzt ganz allein zur Welt bringen musst und es dann in dem hohen Krankenhausbett im Arm hältst, umringt von glücklichen, schwatzenden Familien, die sich um die anderen Betten drängen, umringt von ihren Blumen und Teddybären und Gesprächen. Und du hast ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen, in deiner gleißenden Einsamkeit.
Das hat er noch nie gemacht – sich überhaupt nicht zu melden.
112. Lektion Blumen sprechen
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