Bis auf die Haut
zum gefühlvollen Herzen in der
wundersamsten Sprache
Am vierten Tag kommt ein Brief aus Coles Büro. Er befinde sich in Rom und arbeite an einem Auftrag, den er lange hinausgeschoben hätte. Er hat den Auftrag vor ein paar Monaten erwähnt, eine eher unbedeutende Kreuzabnahme im Besitz von Jesuiten. Das Honorar ist bescheiden, das Kunstwerk zweitrangig. Cole hat dir die Fotos gezeigt und dir fiel an dem von behutsamen Händen heruntergehobenen Leichnam der eigenartig verdrehte Torso auf. Irgendetwas stimmte daran nicht, der Künstler hatte die Anatomie nicht richtig wiedergegeben, als hätte er aus der Erinnerung gemalt und nicht nach einem Modell.
In dem Brief heißt es weiter, Cole sei im Moment unerreichbar; ein Hinweis auf seine Rückkehr fehlt. Coles Assistentin hat den Brief unterzeichnet, dein Mann hat nichts dazugeschrieben. Unvorstellbar, dass er ihn einer fremden Person diktiert hat, so etwas Grausames, Unpersönliches, Ungehobeltes! Dein Mund ist trocken, deine Finger, die den Brief halten, fühlen sich gewichtslos an, als gehörten sie gar nicht zu dir. So etwas hat er noch nie getan.
Du weißt nun überhaupt nichts mehr, weißt nicht, wie es weitergeht.
Du rufst seine Eltern an, hinterlässt eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter, bittest darum, er solle zurückrufen, auch wenn es dir widerstrebt, bei ihnen Hilfe suchen zu müssen. Du durchstreifst die Wohnung und bemerkst darin kaum Spuren von Cole. Du warst immer hinter ihm her, dass er seinen Krempel aufräumte: seine Zeitschriften, seine Briefe, seine Rechnungen. Jetzt hat er nur kleine Häufchen Wechselgeld hinterlassen und einen Stapel Quittungen, und plötzlich reicht dir das nicht mehr, du kommst dir vor wie die ewig meckernde, herrschsüchtige Ehefrau, weil du ihm so wenig Platz gegönnt hast. Du wäschst seinen flüchtigen Geruch aus den Kissenbezügen und der Bettwäsche heraus, bereust aber deinen Impuls, ihn aus deinem Leben wegzuscheuern, gleich wieder.
Du willst Cole zurückhaben, wünschst es dir so sehr.
Deine Mutter ruft an. Ich wollte nur mal hören, wie’s dir geht, sagt sie, und bei ihrer ungewohnten Freundlichkeit strömen auch schon deine Tränen, ganze Sturzbäche, und verschließen dir den Mund.
Ich komm zu dir, sagt sie, sobald ich mir einen Flug organisiert habe.
Zwei Wochen lang ist deine Mutter bei dir, sorgt ständig für frische Blumen und kocht Riesentöpfe Suppe und stopft damit deine Gefriertruhe so voll wie ihre eigene. Sie kocht dir Tee, ohne zu warten, bis du sie darum bittest, und der Tee ist genau, wie du ihn gern trinkst, sehr schwach und milchig; das ist Cole in all den Jahren, die ihr euch schon kennt, nie richtig gelungen.
Zwei Wochen lang schlüpfst du im Gästezimmer zu ihr ins Bett, was du nicht mehr getan hast, seit du zehn warst. Deine Mutter kennt nicht das ganze Ausmaß eurer Schwierigkeiten, weiß nur, dass Cole überstürzt abgereist ist und seine Rückkehr ungewiss. Du weißt jetzt, dass sie sich von ihrer besten Seite zeigt, wenn du verletzlich und am Ende bist, wenn deine Welt zusammenbricht. Eure Beziehung ist im Moment sehr einfach geworden: Das Kind braucht seine Mutter. Damit ist jede Bösartigkeit zwischen euch verschwunden, der Zorn verraucht. Du weißt nicht, wie lange dieser Waffenstillstand anhalten wird, aber du genießt ihre Zuwendung, solange du sie bekommst.
Nach zwei Wochen muss sie wieder abreisen, länger kann sie ihre Arbeit an den Ausgrabungen nicht unterbrechen. Sie will dich nicht allein lassen, aber du bestehst darauf. Als sie auf das Taxi wartet, sagt sie, dass du dich auch wieder nach einem Job umsehen solltest. Damit du wieder ein Ziel im Leben hast.
Du wehrst ab.
Nein, Unterrichten meine ich ja gar nicht, lacht sie. Aber du musst noch etwas anderes finden, was du außer Mann und Kind liebst, denn die brechen einem immer das Herz.
Alles schön und gut! Aber was?
Das kann sie dir nicht sagen. Der Taxifahrer klingelt.
Ich habe angefangen etwas zu schreiben, erzählst du ihr, bin aber noch nicht weit damit gekommen. Eine moderne Version von Opas altem Buch. Ein ungeschönter Blick auf eine Ehe – was eine Frau denkt, aber niemals sagen würde.
Weiß Cole Bescheid?, fragt sie.
Nein, nicht so ganz. Er weiß, dass ich an einem Buch arbeite, hat aber keine Ahnung, worum es darin wirklich geht. Ich möchte ihn nicht verletzen. Ich glaube … ich glaube, er wäre niedergeschmettert. Ich weiß nicht, was er tun würde.
Dann schreib doch anonym, schlägt sie vor,
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