Bis Das Feuer Die Nacht Erhellt
Ich schüttelte den Kopf. »Es war dumm von mir. Es tut mir leid …«
»Hast du es gelesen?«, wollte sie wissen.
»Nein.«
»Du Lügnerin«, höhnte sie. »Du hast es gelesen, nicht? Wer würde das nicht. Ich hasse dich! Ist dein Leben so langweilig, dass du in meinem herumschnüffeln musst? Hast du alles gelesen, oder nur die Seiten, wo es um dich geht?«
Ich wollte gerade strikt leugnen, dass ich es auch nur geöffnet hatte, als Marcies Worte mich plötzlich innehalten ließen. »Mich? Was hast du über mich geschrieben?«
Sie warf das Tagebuch auf die Veranda hinter sich und richtete sich dann kerzengerade auf. »Was kümmert es mich schon?«, sagte sie, verschränkte die Arme und blitzte mich an. »Jetzt kennst du die Wahrheit. Wie fühlt es sich denn an zu wissen, dass die eigene Mutter fremde Ehemänner vögelt?«
Ich stieß ein ungläubiges, wütendes Lachen aus. »Wie bitte?«
»Glaubst du denn wirklich, dass deine Mutter all diese Nächte auf Reisen ist? Ha!«
Ich übernahm Marcies Haltung. »Ja, das tue ich.« Wovon sprach sie da?
»Wie erklärst du dir dann, dass einmal die Woche ihr Auto hier in der Straße geparkt ist?«
»Du verwechselst da was«, sagte ich wütend.
Ich war mir ziemlich sicher, dass ich wusste, worauf Marcie da anspielte.
Wie konnte sie es wagen zu behaupten, dass meine Mutter eine Affäre hatte. Und mit ihrem Vater, ausgerechnet. Selbst wenn er der letzte Mann auf der Welt wäre, dann würde meine Mutter trotzdem nicht mal tot neben ihm über dem Zaun hängen wollen. Ich hasste Marcie, und meine Mutter wusste das. Sie schlief nicht mit Marcies Vater. Sie würde mir das nie antun. Sie würde es meinem Vater niemals antun. Nie.
»Beiger Taurus, Nummernschild X4I24?« Marcies Stimme war arktisch.
»Dann kennst du also ihr Nummernschild«, sagte ich einen Augenblick später und versuchte, das Engegefühl in meiner Brust zu ignorieren. »Das beweist gar nichts.«
»Wach auf, Nora. Unsere Eltern kennen sich seit der Highschool. Deine Mutter und mein Vater. Sie waren zusammen. «
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist gelogen. Meine Mutter hat mir nie von deinem Vater erzählt.«
»Weil sie nicht will, dass du es weißt.« Ihre Augen blitzten. »Weil sie immer noch mit ihm zusammen ist. Er ist ihr schmutziges kleines Geheimnis.«
Ich schüttelte den Kopf heftiger, fühlte mich wie eine zerbrochene Puppe. »Vielleicht hat meine Mutter deinen Vater in der Highschool gekannt, aber das ist lange her und war, bevor sie meinen Vater kennengelernt hat. Du hast die Falsche im Visier. Du hast das Auto von jemand anderem hier parken gesehen. Wenn sie nicht zu Hause ist, dann ist sie auf Reisen, sie arbeitet.«
»Ich habe sie zusammen gesehen, Nora. Es war deine Mutter, versuch also gar nicht erst, dir Entschuldigungen für sie auszudenken. Ich bin an dem Tag zur Schule gegangen
und habe eine Nachricht für deine Mutter mit Sprühfarbe auf deinen Spind gemalt. Verstehst du es denn nicht?« Ihre Stimme war ein abgehacktes Zischen. »Sie haben miteinander geschlafen. Die ganzen Jahre über. Was bedeutet, mein Vater könnte dein Vater sein und du möglicherweise meine – Schwester.«
Das Wort fiel wie eine Klinge zwischen uns.
Ich legte die Arme um mich und drehte mich weg, denn ich hatte das Gefühl, als müsste ich mich übergeben. Tränen schnürten meine Kehle zu und brannten hinten in meiner Nase. Ohne ein Wort ging ich davon. Ich dachte, Marcie würde vielleicht etwas noch Schlimmeres hinter mir her schreien. Aber was hätte es schon Schlimmeres gegeben, das sie hätte sagen können?
Ich ging nicht zu Patch.
Ich musste wohl den ganzen Weg zur Clementine zurück gelaufen sein, an der Bushaltestelle vorbei, am Park und am Schwimmbad, weil das Nächste, woran ich mich erinnerte, war, dass ich auf einer Bank auf dem Rasen vor der öffentlichen Bibliothek saß. Der Lichtkegel einer Straßenlaterne fiel auf mich. Es war eine warme Nacht, aber ich zog die Knie an meine Brust und schlang die Arme darum, denn mein Körper wurde von Zittern geschüttelt. Meine Gedanken waren ein Durcheinander quälender Theorien.
Ich starrte in die Dunkelheit, die mich umgab. Scheinwerfer schwangen die Straße herunter, kamen näher, fuhren vorbei. Sporadisches Sitcomgelächter erschallte aus einem offenen Fenster auf der anderen Straßenseite. Kühle Windstöße jagten eine Gänsehaut über meine Arme. Der berauschende Duft von Gras, moschusartig und feucht von der Sonne des Tages, erstickte
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