Bis Das Feuer Die Nacht Erhellt
gemeint sein konnte – »so nett angedeutet hat: Wenn ich aufs College komme, dann nicht wegen meiner guten Noten.«
Ich wollte niemandem am Tisch die Gelegenheit geben, uns weiter von Scotts Problemen abzubringen. Daher sagte ich: »Ach, komm schon, Scott. Du bringst mich noch um. Was ist an deiner Vergangenheit so schlimm? So furchtbar kann es doch nicht sein, dass du es alten Freunden nicht erzählen willst.«
»Nora …«, fing meine Mutter an.
»Bist du ein paar Mal wegen Trunkenheit am Steuer angehalten worden? Hast du ein Auto geklaut? Eine Spritztour gemacht?«
Unter dem Tisch fühlte ich, wie der Fuß meiner Mutter auf meinem zu stehen kam. Sie sah mich mit einem scharfen Blick an, der besagte: Was ist denn in dich gefahren?
Scotts Stuhl schrammte über den Boden, und er stand auf. »Die Toilette?«, fragte er meine Mutter. Er zog an seinem Kragen. »Verdauungsbeschwerden.«
»Die Treppe hinauf.« Ihre Stimme klang entschuldigend. Sie entschuldigte sich tatsächlich für mein Verhalten, wo sie es doch gewesen war, die uns diesen ganzen lächerlichen Abend eingebrockt hatte. Wer auch nur das geringste bisschen Wahrnehmungsvermögen hatte, konnte sofort erkennen, dass es bei diesem Abendessen nicht um ein Wiedersehen mit alten Freunden ging. Vee hatte Recht: Es war ein »meet cute«. Also, da hatte ich Neuigkeiten für meine Mutter. Scott und ich? Niemals.
Nachdem Scott sich entschuldigt hatte, lächelte Mrs. Parnell breit, als wollte sie die letzten fünf Minuten löschen und noch einmal von vorne anfangen. »Also dann, erzählt mal«, sagte sie. »Hat Nora einen Freund?«
»Nein«, sagte ich zur selben Zeit, als Mom meinte: »Sozusagen. «
»Was denn nun?«, sagte Mrs. Parnell, während sie einen Mundvoll Lasagne kaute und zwischen Mom und mir hin-und hersah.
»Er heißt Patch«, sagte Mom.
»Merkwürdiger Name«, sinnierte Mrs. Parnell. »Was haben sich seine Eltern wohl dabei gedacht?«
»Es ist ein Spitzname«, erklärte Mom. »Patch gerät in eine Menge Schlägereien. Er muss immer wieder geflickt werden.«
Plötzlich bereute ich es, ihr jemals gesagt zu haben, dass Patch sein Spitzname war.
Mrs. Parnell schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das ist ein Gangname. Alle Gangs benutzen solche Spitznamen. Slasher, Slayer, Maimer, Reaper. Patch.«
Ich rollte mit den Augen. »Patch ist in keiner Gang.«
»Das denkst du«, sagte Mrs. Parnell. »Du denkst, Gangs sind für Innenstadt-Kriminelle, richtig? Sie sind wie Ungeziefer, das nur nachts aus seinem Versteck kommt.«
Sie wurde still, und mir war, als hefteten ihre Augen sich auf Scotts leeren Stuhl. »Die Zeiten ändern sich. Vor ein paar Wochen habe ich eine Episode von ›Law and Order‹ gesehen, über eine neue Art von wohlhabenden Vorortgangs. Sie nennen sich Geheimbünde oder Blutsbruderschaften oder anderen Unsinn in der Art, aber es läuft alles auf dasselbe hinaus. Zuerst dachte ich, das wäre der übliche sensationslüsterne Hollywoodmüll, aber Scotts Vater sagt, er sieht immer mehr davon. Und der muss es ja wissen – schließlich ist er Polizist.«
»Ihr Mann ist Polizist?«, fragte ich.
»Ex-Mann, möge seine Seele verrotten.«
Das reicht. Scotts Stimme hallte aus dem dunklen Flur, und ich zuckte vor Schreck zusammen. Beinahe hätte ich mich gefragt, ob er überhaupt ins Bad gegangen war, oder ob er nur draußen vor dem Esszimmer gestanden und gelauscht hatte, als mir klar wurde, dass er wahrscheinlich gar nicht laut gesprochen hatte. Sondern vielmehr …
Ich war mir ziemlich sicher, dass er zu meinen … Gedanken gesprochen hatte. Nein. Nicht zu meinen. Zu denen seiner Mutter. Und ich hatte irgendwie mitgehört.
Mrs. Parnell drehte ihre Handflächen nach oben. »Ich habe nur gesagt, dass seine Seele … und das nehme ich nicht zurück, weil ich es nämlich genau so empfinde.«
»Ich habe gesagt, hör auf.« Scotts Stimme war leise, unheimlich.
Meine Mutter drehte sich um, als hätte sie erst jetzt bemerkt, dass Scott wieder hereingekommen war. Ich zwinkerte ungläubig. Ich konnte nicht wirklich mitgehört haben, als er zu den Gedanken seiner Mutter sprach. Ich meine, Scott war doch ein Mensch … oder etwa nicht?
»Spricht man so mit seiner eigenen Mutter?«, sagte Mrs. Parnell und drohte ihm mit dem Finger. Aber ich konnte sehen,
dass sie es mehr für uns tat, als um Scott in seine Schranken zu weisen.
Sein kalter Blick verweilte noch einen Augenblick auf ihr, dann ging er zur Haustür hinaus und schlug sie hinter
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