Bis Das Feuer Die Nacht Erhellt
hingehen«, sagte Vee, wobei ihre zehn Zentimeter hohen Absätze hinter mir die Stufen herunterstakelten. »Das mach ich immer so, wenn ich in der Klemme stecke. Ruf Scott an und erzähl ihm, dass deine Katze Mäusegedärme spuckt und du sie nach der Schule zum Tierarzt bringen musst.«
»Er war gestern Abend hier. Er weiß, dass wir keine Katze haben.«
»Dann wird er, wenn er nicht gerade zerkochte Spaghetti im Hirn hat, einsehen, dass du nicht interessiert bist.«
Ich dachte darüber nach. Wenn ich mich vor der Stadtführung mit Scott drücken konnte, dann könnte ich Vees Auto borgen und ihm folgen. Sosehr ich auch versuchte zu rationalisieren, was ich gestern Abend gehört hatte, ich konnte doch den bohrenden Verdacht nicht loswerden, dass Scott tatsächlich zu den Gedanken seiner Mutter gesprochen hatte. Vor einem Jahr hätte ich diese Idee noch als lächerlich abgetan, aber jetzt lagen die Dinge anders. Ich hatte Patchs Stimme mehrfach in meinem Kopf gehört. Chaunceys (alias Jules), ein Nephilim in meiner Vergangenheit, auch. Nur weil gefallene Engel nicht alterten und ich Scott kannte, seit
er fünf Jahre alt war, hatte ich es ausgeschlossen. Aber auch wenn Scott kein gefallener Engel war, so konnte er doch immer noch ein Nephilim sein.
Wenn er jedoch ein Nephilim war, was hatte er dann in Coldwater zu suchen? Warum lebte er ein gewöhnliches Teenagerleben? Wusste Scott, dass er ein Nephilim war? Wusste Lynn es? Hatte Scott schon einem gefallenen Engel den Treueschwur geleistet? Und wenn er es nicht getan hatte, lag es in meiner Verantwortung, ihn vor dem zu warnen, was ihm bevorstand? Scott und ich hatten uns nicht gerade gut verstanden, aber das hieß ja nicht, dass er es verdient hatte, seinen Körper jedes Jahr zwei Wochen lang aufgeben zu müssen.
Natürlich, vielleicht war er am Ende gar kein Nephilim. Vielleicht konnte ich mich einfach nicht von meiner Einbildung lösen, dass ich ihn dabei belauscht hatte, wie er in Gedanken mit seiner Mutter sprach.
Nach Chemie ging ich bei meinem Spind vorbei, tauschte mein Lehrbuch gegen Rucksack und Handy und ging dann zu den Seitentüren, die einen klaren Blick auf den Schülerparkplatz boten. Scott saß auf der Motorhaube seines silberblauen Ford Mustangs. Er hatte immer noch die Hawaiikappe auf, und es ging mir auf, dass ich, wenn er so weitermachte, ihn ohne sie überhaupt nicht erkennen würde. Zum Beispiel kannte ich nicht einmal seine Haarfarbe. Ich zog die Post-it-Notiz, die meine Mutter mir hinterlassen hatte, aus der Tasche und wählte seine Nummer.
»Das muss Nora Grey sein«, antwortete er. »Ich hoffe, du willst mich nicht versetzen.«
»Schlechte Neuigkeiten. Meine Katze ist krank. Der Tierarzt hat mich für halb eins in die Sprechstunde bestellt. Wir müssen die Rundfahrt verschieben. Tut mir leid«, schloss ich, hatte allerdings nicht erwartet, dass ich mich so schuldig fühlen
würde. Schließlich war es nur eine kleine Notlüge. Und nichts in mir glaubte ernsthaft daran, dass Scott eine Rundfahrt durch Coldwater wollte. Zumindest sagte ich mir das, um mein Gewissen zu beruhigen.
»In Ordnung«, sagte Scott und brach die Verbindung ab.
Ich hatte mein Handy gerade erst zugeklappt, als Vee hinter mir auftauchte. »Einfach lässig fallenlassen, so kennt man dich!«
»Hast du was dagegen, wenn ich mir heute Nachmittag den Neon ausleihe?«, fragte ich, während ich beobachtete, wie Scott vom Mustang herunterglitt und mit seinem Handy telefonierte.
»Wozu?«
»Ich will Scott verfolgen.«
»Warum das denn? Heute Morgen hast du ziemlich klargestellt, dass du ihn für einen Widerling hältst.«
»Irgendetwas an ihm ist … merkwürdig.«
»Ja, seine Sonnenbrille. Voll der Hulk-Hogan-Look. Abgesehen davon: Nein, geht nicht. Ich habe eine Verabredung mit Rixon.«
»Ja, aber Rixon kann dich abholen, dann könnte ich den Neon haben«, sagte ich, wobei ich schnell durchs Fenster sah, um sicherzustellen, dass Scott noch nicht in den Mustang gestiegen war. Ich wollte nicht, dass er losfuhr, bevor ich Vee überredet hatte, die Schlüssel des Neons herzugeben.
»Natürlich kann er das, aber dann sehe ich so bedürftig aus. Die Jungs von heute wollen eine starke, unabhängige Frau.«
»Wenn du mich den Neon nehmen lässt, dann tanke ich voll.«
Vees Ausdruck wurde ein klein bisschen weicher. »Ganz voll?«
»Ganz voll.« Oder so voll, wie es mit acht Dollar und zweiunddreißig Cents eben ging.
Vee kaute an ihrer Lippe. »Okay«, sagte sie
Weitere Kostenlose Bücher