Bis dass der Tod uns scheidet
mich wieder daran, was wichtig war und warum ich hier war.
»Haben die Kinder dir irgendetwas erzählt?«, fragte ich.
»Nur dass sie bei ihrer Tante Chrys wohnen wollen, in einem Haus auf dem Dach eines großen Gebäudes.«
»Haben sie davon gesprochen, was mit ihrer Mutter geschehen ist?«
In diesem Moment sprang die Wohnungstür auf, und die Kinder mit ihrem Lächeln und ihrem alles beherrschenden Liebreiz kamen hereingestürzt.
»Hallo«, sagte Aura und erhob sich für ihre Tochter und die kleine Sippschaft.
Sie lachten und grüßten und redeten, sie bräuchten was zu trinken und ein Klo und eine DVD.
Theda und Aura machten sich daran, diese Bedürfnisse zu erfüllen, während die älteste Schwester sich abseits hielt und sich auf merkwürdig erwachsene Weise räkelte.
»Fatima«, sagte ich.
Das Mädchen riss die Augen auf und kam auf mich zu. Sie streckte ihre Hand aus, und ich führte sie auf den winzigen Balkon hinaus.
Ich zog die Glastür zu und setzte mich auf einen der beiden pinkfarbenen, gusseisernen Stühle dort draußen. Fatima kletterte mir auf den Schoß, so als würden wir uns schon ein ganzes Leben lang kennen.
»Ich mag dich, Fatima«, erklärte ich.
»Hm-hm«, bestätigte sie.
»Ich werde offen zu dir sein, weil das die einzige Möglichkeit ist, wie wir uns gegenseitig helfen können.«
»Na gut.«
»Du weißt, dass deine Mutter fort ist, richtig?«
»Ja.«
»Also gibt es zwei Dinge, die wir zu tun haben«, stellte ich fest.
Fatima legte mir die rechte Hand ans Kinn und fuhr über die Bartstoppeln. Aus dem Augenwinkel sah ich Aura, die uns aus der Wohnung heraus beobachtete.
»Welche zwei Dinge?«, fragte Fatima.
»Ich muss deine Tante finden, damit ich den Mann erwische, der deine Ma weggebracht hat, und damit ihr bei Chrystal leben könnt.«
»Wir wollen zu unserer Tante Chrys«, bekräftigte Fatima.
»Dann wollen wir dasselbe.«
»Hm-hm.«
»Erzähl mir, was du über Tante Chrys weißt«, bat ich sie.
»Sie ist wunderschön und mutig und lügt nie, wenn sie sagt, was sie vorhat«, zählte Fatima in einem Atemzug auf. »Und einmal, als Mama Shawna krank war, da hat sie versprochen, uns alle aufzunehmen, um bei ihr zu wohnen, wenn Mama jemals was passiert.«
»Das ist sehr nett von ihr«, meinte ich.
»Ja.«
»Hast du eine Ahnung, wohin Tante Chrys wohl fährt, wenn sie mal für eine Weile allein sein will?«
»Das ist ein Geheimnis.«
»Wirklich?«
»Hm-hm. Tante Chrys hat mir gesagt, ich darf es keinem erzählen, nicht mal Mama.«
»Und hast du es jemals weitergesagt?«
»Nur Boaz, und der hat nichts verraten.«
»Also, Fatima«, sagte ich, »ich kenne mich mit Geheimnissen aus. Ich habe so viele davon, dass ich sie manchmal sogar vergesse. Ich möchte dich auch nicht dazu bringen, etwas zu verraten, das du versprochen hast für dich zu behalten, aber ich muss Chrystal finden, und du musst entscheiden, ob es wert ist, mir ihr Geheimnis zu verraten, damit ich sie finde. Ich meine, glaubst du, sie würde wollen, dass du es mir sagst?«
Ihr ernstes Gesicht faszinierte mich: ein Kind, das seinen Verstand auf eine Weise zum Denken bringt, die ihm eigentlich unmöglich, aber absolut notwendig ist.
»Ich glaube, sie würde wollen, dass wir sie finden«, erklärte Fatima schließlich.
»Und wo können wir sie finden?«
»Vielleicht in ihrem Versteckhaus in Saltmore, Altmore oder so. Das hat sie vor langer Zeit gekauft, als sie ihr erstes Bild verkauft hat. Das ist ein großes Geheimnis, du darfst also niemandem davon erzählen. Es ist ein kleines weißes Haus mit einem gelben links und einem grauen rechts. Und man muss mit der Eisenbahn fahren, um dorthin zu kommen.«
»Danke, Fatima«, sagte ich. »Ich werde Chrystal finden, du kannst dich drauf verlassen.«
Ein paar Blocks von Auras Haus entfernt nahm ich mein Handy und rief an.
»Hallo?«, fragte eine angenehme Stimme nach dem siebenten Klingeln.
»Tam? Ich bin’s, LT.«
»Mr. McGill«, sagte sie.
»Gilt die Einladung zum Abendessen auch für heute Abend?«
»Sicher. Wir essen um halb sieben. Timothy wird etwa eine Stunde vorher zu Hause sein.«
»Ich komme so pünktlich, wie ich nur kann.«
Ich legte auf und schüttelte mich wie ein nasser Hund.
31
Zeitverschwendung ist in der Welt, in der wir leben, ein großes Problem, so viel steht mal fest. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir notwendigerweise bei jedem Schritt, den wir tun, auch wissen müssen, wie das Ziel heißt. Manchmal tun wir
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