Bis du erwachst
sie aus dem Augenwinkel Justin in der Tür stehen. Sein Anblick schockierte sie. Justin war stets gut angezogen und gepflegt gewesen, doch jetzt stand da ein verwahrloster Mann vor ihr, der aussah, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Dennoch – echtes Mitgefühl konnte sie nicht für ihn aufbringen.
«Cara, wie geht’s?», fragte er. Den coolen Typ, der in einer schicken neuen Lederjacke am Bett seiner Freundin saß, ignorierte er entweder, oder er sah ihn wirklich nicht.
«Gut, danke. Schön, dich zu sehen», log sie. Obwohl sie nicht traurig gewesen wäre, wenn sie ihn nie wiedergesehen hätte, war sie doch froh, dass er sich endlich eingefunden hatte. «Und das ist Michael», sagte sie ein wenig verlegen. Aufmerksam musterte sie Justins Miene. Das konnte lustig werden.
«Hallo», sagte Michael. Justin sah ihn verwirrt an.
«Das ist ein Freund von Lena, Justin. Michael, das ist Justin, Lenas Freund.»
Sie schüttelten sich die Hände und maßen sich dabei mit Blicken. Justins anfängliche Verwirrung wich Verärgerung. «Wer sind Sie?», wollte er wissen. «Lena hat Sie nie erwähnt.»
«Ich bin … ich bin ein Freund von Lena.»
«Na, Sie scheinen sich da ja nicht so sicher zu sein», versetzte Justin aggressiv.
«Lass ihn in Ruhe, Justin.»
«Ich soll ihn in Ruhe lassen? Ich will nur wissen, wer er ist und warum er am Krankenbett
meiner
Freundin sitzt. Sobald ich das erfahren habe, lasse ich ihn in Ruhe!»
In diesem Augenblick kam Schwester Gratten herein. IhreMiene war finster. «Könnten Sie bitte ein wenig leiser sein? Während meiner Schicht dulde ich kein Geschrei!»
«Verzeihen Sie, Schwester», sagte Justin, den Blick immer noch auf Michael geheftet.
«Ich gehe dann mal besser», sagte Michael verlegen. Cara stand auf und folgte ihm auf den Gang hinaus.
«Tut mir leid», sagte sie draußen.
«Nein, das ist alles meine Schuld. Ich hätte nicht kommen sollen.»
«Ich bin Lenas Familie. Ich und Millie. Und ich – also,
wir
bestimmen, wer hier rein darf, und Sie sind uns
immer
willkommen. Justin lässt sich ohnehin kaum blicken.»
«Wirklich?»
«Es war reiner Zufall, dass Sie sich heute begegnet sind.» Sie legte die Hand auf Michaels Ellbogen.
«Okay», erwiderte er.
«Kommen Sie bitte wieder. Ich bin fest davon überzeugt, dass meine Schwester eine männliche Stimme hören sollte, die weder Ade noch Justin gehört. Sie braucht Sie.»
Cara ging zum Kaffeeautomaten. Ihr war klar, dass sie ein wenig arg dick aufgetragen hatte, aber wenn schon. Michael tat Lena gut, davon war sie überzeugt. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Justin Lena kaum angeschaut hatte, auch nicht bei den wenigen anderen Gelegenheiten, wo sie ihn an Lenas Bett gesehen hatte. Vielleicht empfand auch er etwas von dem schlechten Gewissen, das sie alle zwickte. Oder war da noch etwas anderes?
«Seit wann geht das schon so?», fragte er, als sie wieder im Krankenzimmer war.
Cara stellte den Kaffee auf dem Nachttisch ab und setzte sich. «Seit wann geht was so?»
«Seit wann trifft sich Lena mit diesem Typen?»
«Spinnst du?»
«Sie erzählt dir doch immer alles. Du müsstest es doch wissen … also sag schon, seit wann?»
«Du hast gehört, was die Schwester gesagt hat, nicht so laut.»
Er strich sich über das überlange Haar und wirkte plötzlich unendlich müde. Er brauchte dringend Schlaf und vielleicht auch ein Bad. Und offensichtlich war er kurz davor durchzudrehen, wenn er glaubte, dass Lena ihn hätte betrügen können. Ausgerechnet Lena.
«Michael ist ein Freund.»
«Ein sehr gutaussehender Freund.»
«Was, stehst du auf einmal auf Männer oder wie?»
«Mach dich nicht darüber lustig. Ich habe doch gesehen, was für Blicke er ihr zugeworfen hat.»
«Es überrascht mich, dass dir das aufgefallen ist, obwohl du sie noch kein einziges Mal angeschaut hast!»
Schweigen.
Cara hob ihre Kaffeetasse, aber Justin war schon auf dem Weg nach draußen, mit hängenden Schultern, offenbar bereit, in das Loch zurückzukehren, aus dem er eben gekrochen war.
Die Kraftprobe mit Lenas Freund war ein bisschen peinlich gewesen, fand Michael. Das alles war schon ein bisschen heftig gewesen, vor allem für den Fall, dass Lena sie hören konnte.
Trotzdem konnte er nicht anders, als den Glückspilz zu beneiden, der mit Lena zusammen sein, sie umarmen und küssen durfte, und dabei doch so ein Trottel war! Einer dieserpseudocoolen Citytypen, die, egal wie weit sie es in ihrem Job brachten, immer Idioten
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