Bis ich dich finde
wollte, daß Claudia »diese lesbische Beziehung« zwischen ihrer
und Jacks Mutter verstand. Eigentlich sei es aber gar keine lesbische
Beziehung.
»Nicht?« wunderte sich Jack.
»Sie sind keine normalen Lesben,
Zuckerbär. Sie sind überhaupt nicht wie Lesben – abgesehen davon, daß sie
zusammenleben und miteinander ins Bett gehen.«
»Das klingt aber doch ein bißchen lesbisch«, wandte Claudia ein.
»Du mußt ihre Beziehung im Zusammenhang betrachten«, [436] erklärte
Emma. »Jacks Mutter hat das Gefühl, daß die Zeit, in der Männer in ihrem Leben
eine Rolle gespielt haben, mit seinem Vater begonnen und geendet hat. Und meine
Mutter haßt meinen Vater, und in diesen Haß sind alle anderen Männer
eingeschlossen. Bevor meine und Jacks Mutter sich kennengelernt haben, hatten
sie jede Menge miese Freunde – die Art von Freunden, die wie eine sich selbst
erfüllende Prophezeiung sind, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ja, ich weiß«, sagte Claudia. »Du denkst, Männer sind Arschlöcher,
also suchst du dir ein Arschloch als Freund. Die Sorte kenne ich.«
»Wenn dein Freund sich dann von dir trennt«, fuhr Emma fort, »oder
du dich von ihm, brauchst du deine Meinung über Männer nicht zu ändern.«
»Ja, genau«, sagte Claudia.
Jack sagte nichts. Daß seine Mutter »jede Menge miese Freunde«
gehabt hatte, bevor sie Mrs. Oastler kennengelernt hatte, war ihm neu, und ihm
kam der Gedanke, daß Emma und Claudia vielleicht über Emmas Liebesleben gesprochen hatten – darüber wußte er ja nicht viel. Sie hatte eine
Menge Bettgenossen gehabt – meist nur für eine Nacht. Ihrer Meinung nach waren
sie alle mies gewesen, und doch hatte sie nie die geringsten Schwierigkeiten
gehabt, sie hinter sich zu lassen. (Die meisten waren vor allem jung gewesen,
fand Jack – jedenfalls diejenigen, die er kennengelernt hatte.)
Um das Thema – wenn auch nur ein winziges bißchen – zu wechseln,
stellte er Emma eine Frage, die ihm seit Jahren immer wieder durch den Kopf
ging. Es war leichter, diese Frage in Anwesenheit einer dritten Person zu
stellen; er hoffte, daß Emma aus Respekt vor Claudia gewisse Aspekte unerwähnt
lassen würde.
»Ich weiß ja nicht, wie es bei deiner Mutter ist, Emma«, sagte er,
»aber es würde mich wundern, wenn meine Mutter nicht [437] immer noch an Männern
interessiert wäre – an jungen Männern jedenfalls.
Wenn auch nur gelegentlich.«
»Wenn es um junge Männer geht, traue ich meiner Mutter so einiges
zu, Zuckerbär, aber bei deiner Mutter weiß ich hundertprozentig, daß sie sich
noch immer für Männer interessiert – besonders für junge Männer.«
Jack war nicht überrascht, aber es war das erste Mal, daß er es
bestätigt hörte. Er dachte auch an Emmas Einschlafgeschichten und fragte sich,
ob der miese Freund in der Geschichte vom gequetschten Kind vielleicht einer
der Freunde ihrer Mutter gewesen war und ob er für Emmas Abneigung gegen ältere
oder auch nur gleichaltrige Männer verantwortlich war.
Alice hatte aufgehört, für den Chinesen zu arbeiten, und besaß nun
ein eigenes Studio in der Queen Street. Es hieß »Daughter Alice«, und sie hatte
es gerade rechtzeitig eröffnet, um auf der Welle des neuen Trends zu reiten.
(Ganz sicher hatte Leslie Oastler ihr beim Kauf des Hauses geholfen, dachte
Jack.)
In späteren Jahren war die Queen Street so en vogue, daß sich die
Leute dort drängten. Es gab Geschäfte mit sinnreichen Namen und jede Menge
Bistros. Das Daughter Alice lag jedoch weiter westlich, wo die Queen Street ein
bißchen heruntergekommener – und, laut Emma, »ziemlich chinesisch« – wirkte.
Alice’ Kundschaft war von Anfang an »ganz schön jung«, um es mit
Emmas Worten zu sagen. Jack wußte nicht, ob diese jungen Leute wegen seiner
Mutter kamen oder ob sie da waren, weil es auf der Queen Street eben von jungen
Leuten wimmelte. Emma behauptete, in das Studio kämen hauptsächlich junge
Männer, hin und wieder in Begleitung ihrer Freundinnen, die sich ebenfalls
tätowieren lassen wollten. Doch Jack wußte bereits, daß junge Männer seine
Mutter mochten und daß sie sich ebenfalls zu ihnen hingezogen fühlte.
Emma sagte auch, ihre Mutter sei »keine Frau für die Queen Street«.
Ihr gefielen weder die Atmosphäre noch die Kundschaft [438] im Daughter Alice.
Doch nach all den Lehrjahren genoß Alice die Selbständigkeit. Das Studio war
immer voll; man wartete darauf, an die Reihe zu kommen, und sah Alice bei der
Arbeit zu. An den Wänden
Weitere Kostenlose Bücher