Bis ich dich finde
paßte
überhaupt nicht zu Claudia. Aber wer konnte sagen, wo sie gewesen war und – im
Totenreich – mit wem? Sie streckte die Hände aus, und Jack half ihr auf. Er war
überrascht, daß er ihr nicht unbeträchtliches Gewicht spüren konnte. Wer hätte
vermutet, daß Geister überhaupt etwas wogen? Aber nach ihrem Aussehen zu
urteilen mußte Claudia auch im Himmel oder an jenem anderen Ort noch auf ihr
Gewicht achten.
Und sie machte sich offenbar immer noch Sorgen über ihre Hüften. Sie
hatte die gleiche Art von langem, weitem Rock an, wie sie sie schon immer gern
getragen hatte – auch im Sommer. Ihre Brüste waren so schwer, wie Jack sie in
Erinnerung hatte. Tatsächlich war sie angesichts dessen, was Menschen, die an
Geister glaubten, im allgemeinen so glaubten, für einen Geist ausgesprochen
wohlgerundet.
Jack lief zum Auto und machte die Scheinwerfer aus, wobei er halb
damit rechnete, daß Claudias Geist verschwand. Aber sie wartete lächelnd auf
ihn und ließ sich ihren alten Lederkoffer von ihm ins Haus tragen. Sie ging
geradewegs in Jacks Schlafzimmer, als wären sie immer noch ein Paar und hätten
all die Jahre zusammengelebt – obwohl Claudia nie in diesem Haus gewesen war.
Er wartete wie unter Schock, während sie seine Toilette aufsuchte. (Was Geister
so alles mußten!)
[973] Jack war innerlich tief zerrissen. Einerseits glaubte er ihr,
andererseits mißtraute er ihr. Sie hatte die gleiche cremig-glatte Haut, die
gleichen vorstehenden Kiefer- und Wangenknochen: ein Gesicht wie gemacht für
Nahaufnahmen. Claudia hätte trotz ihrer Gewichtsprobleme Filmschauspielerin
werden sollen. Ein solches Gesicht sei am Theater verschwendet, hatte Jack ihr
immer gesagt.
Als sie aus dem Bad kam, trat sie auf Jack zu und rieb die Nase an
seinem Hals. »Sogar dein Geruch hat mir gefehlt«, sagte sie.
»Geister haben einen Geruchssinn?« fragte er.
Er hielt sie an den Schultern auf Armeslänge von sich und schaute
ihr in die Augen; sie waren von der gleichen gelblich-braunen Farbe wie früher
und glichen poliertem Holz, den Augen einer Löwin. Aber irgend etwas an ihr war
anders: Die Ähnlichkeit war verblüffend, aber nicht vollkommen. Es lag nicht
nur daran, daß sie offensichtlich zu jung war, um die Claudia sein zu können,
die er gekannt hatte – selbst wenn sie am Tag nach ihrer Trennung gestorben
wäre, selbst wenn der Tod (wie der Geist gesagt hatte) ihr tatsächlich stünde.
»Mir kommt da ein Gedanke, Claudia«, sagte er. Selbst auf Armeslänge
konnte er ihre Körperwärme spüren. Und dabei hatte er die ganze Zeit geglaubt,
Geister würden sich (falls man sie überhaupt fühlen konnte) kalt anfühlen. »Seit dem Tod meiner Mutter frage ich mich das«, sagte er. »Ob
Geister die Tätowierungen behalten, die sie zu Lebzeiten hatten – im Jenseits,
meine ich.«
Wieder dieses Lächeln – aber auch ihr Lächeln war nicht genauso, wie
Jack es in Erinnerung hatte. Claudias Zähne waren nie so weiß gewesen. Langsam
hob sie den langen weiten Rock. Ihr Blick war unverändert verführerisch, und
dort, hoch an der Innenseite ihres Oberschenkels, der noch ein bißchen draller
war, als er ihn in Erinnerung hatte, war die Tätowierung des [974] chinesischen
Zepters oder Kurzschwertes, das »Wie du willst« bedeutete.
»Es hat ganz schön lange gedauert, aber irgendwann ist es verheilt«,
sagte sie.
Es war ein ziemlich gutes chinesisches Zepter, fand Jack, aber es
war nicht so perfekt wie das, das seine Mutter von Paul Harper gelernt hatte.
»Es ist echt«, sagte die junge Frau. »Das kannst du nicht mit der
Hand abrubbeln. Überzeug dich selbst, Jack – na los, faß ruhig hin.«
Die tragende Stimme mochte die gleiche sein, aber dem Gesprochenen
fehlte es an Claudias Exaktheit, ihrer korrekten Aussprache, der Gepflegtheit.
Das beiläufig hingeworfene »Na los, faß ruhig hin« sah Claudia ebenso wenig
ähnlich wie das Wort bescheuert, das ihn vorhin hatte
aufhorchen lassen.
Er berührte die Tätowierung der jungen Frau weit oben an der
Innenseite ihres Oberschenkels – ihr nachgemachtes chinesisches Zepter, wie er es bei sich nannte.
»Wer bist du?« fragte er.
Sie nahm seine Hand und führte sie weiter nach oben. Sie trug keine
Unterhose, nicht einmal einen Stringtanga. »Fühlt sich das nicht vertraut an,
Jack? Willst du da nicht wieder rein – willst du nicht wieder jung sein?«
»Du bist nicht Claudia«, sagte Jack. »Claudia war niemals ordinär.«
Und Geister, hätte er hinzufügen
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