Bis ich dich finde
Besuch vielleicht nicht recht zu würdigen wußte. (Er
war nicht in heiterer Gemütsverfassung.) Das weiß verputzte Gebäude mit
Fensterläden in der gleichen graublauen Farbe wie der See sah eher nach kleinem
Hotel als nach Klinik aus. Von den im zweiten Stock gelegenen Eckzimmern seines
Vaters aus ging der Blick über die Dächer von Kilchberg auf das Ostufer des
Zürichsees. Südlich des Sees erhoben sich in diesiger Ferne die Alpen.
Das Kopfteil des Klinikbetts, auf dem Jacks Vater lag und las, war
halb hochgekurbelt. Das Bett und die Tatsache, daß auf den geräuschgedämpften,
mit einer Gummierung versehenen Böden keine Teppiche lagen, boten die einzigen
Hinweise darauf, daß diese Privatsuite Teil einer Anstalt und daß der auf dem
Bett Liegende ein Patient war. Trotz der geöffneten Fenster und der warmen
Brise, die vom See heranwehte, war William wie für einen frischen Herbsttag
gekleidet: ein dickes Flanellhemd über einem weißen T-Shirt, Kordhose und weiße
Sportsocken. (Wäre Jack so gekleidet gewesen, hätte er geschwitzt – obwohl er
beim Anblick seines Vaters sofort zu frieren begann.)
Das Schlafzimmer, von dem aus man in einen zweiten Raum mit einem
Sofa und einem Kartentisch mit zwei Stühlen gelangte, war nicht mit Möbeln oder
Erinnerungsstücken vollgestopft. Jack sah nur Fotos – große Pinnwände, über und
über mit einander überlappenden Schnappschüssen behängt. An den
pfirsichfarbenen Wänden beider Räume hingen außerdem Filmplakate. Es waren
Plakate von Jack-Burns-Filmen. Soweit Jack das [1078] mit einem Blick feststellen
konnte, hatte sein Vater sie allesamt gerahmt. Die Sammlung von CD s, DVD s, Videokassetten
und richtigen Büchern auf den Regalen um ihn herum war etwas ausgewogener als
die im Büro und im Zimmer seiner Schwester.
Zusammen mit Professor Ritter und Jack hatte das Ärzeteam das
ansprechende, aber bescheidene Quartier seines Vaters in völligem Schweigen
betreten. Jack glaubte zunächst, sein Vater habe ihre Anwesenheit gar nicht
bemerkt. (William hatte nicht von seinem Buch aufgeblickt.) Aber wie schon die
Tür zum Flur zeigte, die nur angelehnt gewesen war, hatte das Leben in einer
psychiatrischen Klinik dafür gesorgt, daß Jacks Vater solche Störungen vertraut
waren. Er war Ärzte und Schwestern gewöhnt, die nicht unbedingt anklopften.
Jacks Vater war sich ihrer Anwesenheit durchaus bewußt und hatte
absichtlich nicht von seinem Buch aufgeblickt. Jack begriff, was sein Vater
damit zu verstehen gab: daß er auf einer Privatsphäre bestand. Zwar fühlte sich
William Burns, wie der kernige Dr. Horvath behauptet hatte, im Sanatorium
Kilchberg tatsächlich sehr wohl, aber das hieß nicht, daß er sich mit allem
wohlfühlte.
»Sagen Sie nichts – lassen Sie mich raten«, sagte Jacks Vater, der
weiterhin stur in sein Buch starrte. »Sie haben eine Besprechung gehabt und
sind bemerkenswerterweise zu einer Entscheidung gekommen. Ach, wie schön – Sie
haben eine Abordnung geschickt, um mir Ihre interessantesten Gedanken mitzuteilen!«
(William weigerte sich nach wie vor, sie anzusehen. Seine Kupferarmbänder
schimmerten im trüben Nachmittagslicht.)
William Burns hatte ohne erkennbaren Akzent gesprochen, als hätten
die Jahre in fremden Städten und deren Kirchen alles verdrängt, was einmal
schottisch an ihm gewesen war. Er klang jedenfalls nicht amerikanisch, aber
auch nicht britisch. Es war ein europäisches Englisch, wie man es in Stockholm
und Stuttgart, in Helsinki und Hamburg sprach. Es war das [1079] akzentfreie
Englisch der Kirchenlieder, sämtlicher vertonter Stimmen – von der
Festungskirche, der Kastelskirken in Frederikshavn, bis zur Oude Kerk in
Amsterdam.
Was Williams Sarkasmus anging, so wurde Jack klar, daß seine
Schwester Heather den ihren nicht unbedingt von ihrer Mutter geerbt hatte.
»Seien Sie nicht kindisch, William«, sagte Dr. von Rohr.
»Sie haben einen besonderen Besucher, William«, sagte Dr. Berger.
Williams Gesicht erstarrte. Er las nicht mehr, wollte aber auch
nicht von seinem Buch aufblicken.
»Ihr Sohn Jack ist den ganzen Weg gekommen, um mit Ihnen essen zu
gehen!« rief Professor Ritter.
»In der Kronenhalle!« donnerte Dr. Horvath.
William klappte das Buch zu und schloß die Augen. Es war, als könnte
er seinen Sohn mit geschlossenen Augen besser sehen oder ihn sich besser
vorstellen. Jack konnte ihn nicht so ansehen. Er betrachtete statt dessen die
Fotos an der nächstgelegenen Pinnwand und wartete darauf,
Weitere Kostenlose Bücher