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Bis zum Hals

Bis zum Hals

Titel: Bis zum Hals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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Tempo dann unter allem Umständen zu halten. Wer immer sie zwingen sollte, die Bremse auch nur zu berühren, musste dafür leiden.
    Es ist eine Sache, den Facettenreichtum einer Frau zu bewundern, aber eine völlig andere, daneben zu sitzen und hilflos mit ansehen zu müssen, wie sie einen Schulbus in den Gegenverkehr zu drängen versucht.
    So sanft, so zurückhaltend im Gespräch, so nervenstark in Notsituationen, so präzise im Umgang mit der Schusswaffe und eine absolute, rabiate Furie am Steuer. Man kam und kam nicht umhin, sich zu fragen, wie sie wohl im Bett sein mochte.
    Ein Ortsfremder setzte zu einem etwas unsicheren Wechsel auf unsere Fahrbahn an und musste sich mit Licht und Schall anhupen, barsch zurück in seine Spur pushen und mit den rüdesten Gesten und in den rauesten Tönen beschimpfen lassen.
    Das Furchtbare ist, dass man diese Leute dann grundsätzlich an der nächsten Ampel neben sich stehen hat.
    In Schweiß gebadet, beide Hände in den Sitz verkrallt, suchte ich hastig nach einer Strategie, die meine Fahrerin ablenken, besänftigen könnte, bevor sie uns beide an den nächsten Brückenpfeiler schmierte. Ein paar Worte schienen ratsam. Ich klärte meinen trockenen Hals.
    »Was mir, äh, aufgefallen ist, Anoushka: Du bist sehr gut, im Umgang mit, äh, Schusswaffen.«
    Achselzucken. Unverändert hohe Drehzahl.
    »Ich hab mich nur gefragt«, entgegnete sie, »warum du dir die Pistole nicht genommen hast.«
    »Ich? Ich wüsste nicht, wo vorne und hinten ist. Alles, was ich damit treffen würde, wäre höchstwahrscheinlich mein Fuß.«
    »Aber du bist doch ein Detektiv, oder?«
    Ich nickte.
    »Und da trägst du keine Waffe?«
    »Nein. Nie.« Mal abgesehen davon, dass ich niemals in diesem Leben einen Berechtigungsschein dafür bekäme, nicht mit einem Vorstrafenregister, einem Blutbild und einem Rechtsempfinden wie dem meinen, wäre der Besitz sinnlos, weil eine Anwendung undenkbar. Egal wie die Situation aussähe, in der das nötig werden könnte, im Hintergrund stünde immer die Frage: Kann ich meinen Notwehr-Status im Nachhinein auch wirklich und einhundertprozentig beweisen? Denn das muss man, sonst machen sie einen fertig. Und bis du mit diesem ablenkenden kleinen Gedankenspiel durch bist, hat dein Opponent alle Zeit der Welt gehabt, dir so viel Blei wie es ihm behagt in den Wanst zu jagen.
    »Du musst sehr mutig sein«, meinte Anoushka und wechselte das dritte Mal in zwanzig Sekunden die Spur.
    Ich schüttelte den Kopf, mehr denn je vom Gegenteil überzeugt.
    »Meiner Ansicht nach zieht man mit einer Schusswaffe eh nur das Feuer auf sich.«
    Sie wog das ab und bog in einen Kreisverkehr, ohne vom Gas zu gehen oder dem übrigen Verkehr auch nur einen müden Blick zu gönnen. Reifen kreischten und irgendetwas schepperte blechern in unserem Kielwasser.
    Die fährt ja schlimmer als ich, ging mir auf, mit der ganzen absorbierenden Faszination, die Nahtoderfahrungen so mit sich bringen. Ich begann mich zu fragen, ob irgendjemand irgendwo irgendwann jemals tatsächlich dieser Frau einen Führerschein ausgestellt hatte. Doch ich wusste es besser, als das jetzt zu äußern. Stattdessen fragte ich sie, wo sie das Schießen gelernt habe.
    Anoushka nahm sich die Zeit, eine Frau mit Kinderwagen vom Zebrastreifen zu verscheuchen, bevor sie antwortete.
    »Ich bin Lehrerin«, sagte sie, als erklärte das alles, und meine Vorstellung von den Zuständen im russischen Schulsystem verdüsterte sich dramatisch. »Lehrerin für deutsche und englische Sprache. Doch weil meine Familie arm war, brauchte ich, um studieren zu können, ein Stipendium. Das gab es damals nur von der Armee. Und um das Stipendium zu bekommen, musste ich erst der Armee beitreten und eine Ausbildung als Soldatin machen.«
    »Hast du da Dimitrij kennengelernt?«
    Sie blickte nach vorn, nachdenklich, ob eine rote Ampel an einer stark befahrenen Kreuzung wirklich einen Grund zum Anhalten darstellt oder nicht, entschied sich dann für ja, verzögerte widerwillig und sagte: »Nein.«
    »Ich frag nur, weil dem Pathologen zahlreiche Narben an Dimitrijs Körper aufgefallen sind. Mögliche Kriegsverwundungen, wie er meint.«
    Die Ampel sprang um, und Anoushka grub das Gaspedal wieder in den Teppich.
    »Also, war Dimitrij im Krieg?«
    Ihre Züge verhärteten sich, der Mund mit der ach so üppigen Unterlippe wurde schmal, das ganze Thema schien ihr – begreiflicherweise – nicht zu behagen. Doch Verdrängung brachte uns bei den anstehenden Problemen

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