Bis zum letzten Atemzug
schneller. Wenn es ein Schuss war, haben wir einen Grund, das Gebäude zu stürmen.
»Ein Hämmern, als wenn im Raum über uns jemand auf und ab springt.« Noah verzieht seinen Mund zu einem halben Lächeln. »Das Arschloch hat uns im Stich gelassen.«
Ich entspanne mich ein wenig. Kein Schuss. Aber trotzdem. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Lehrer absichtlich einen Klassenraum voller Schüler alleine lässt, wenn sich ein Bewaffneter in der Schule befindet. »Wie heißt dein Lehrer?«
»Mr Arschloch Ellery.« Er betritt die Stufen zum Bus.
Ellery. Der Name sagt mir was, aber ich sehe dazu kein Bild vor mir. Die letzte Schülerin setzt sich auf ihren Platz im Bus, und ich steige ein, um dem Fahrer und dem Officer, der sie begleiten wird, noch einige Anweisungen zu geben. Im Bus ist es unheimlich still. Gar nicht so, wie es in einem Bus voller Schulkinder klingen sollte. Kein raues Gelächter, kein Tauschen von Sitzplätzen, kein Klauen von Mützen. Nur stille, traurig aussehende Kinder, die aus dem Fenster oder auf ihre Hände schauen.
»Wenn ihr bei Lonnie’s ankommt, dürfen die Kinder nur an ihre Eltern oder Betreuer übergeben werden. An niemanden sonst. Und achtet darauf, dass alle Eltern unterschreiben, dass sie ihr Kind übernommen haben.«
Der Deputy Sheriff, eine Frau aus dem Nachbarort Bohr, nickt. »Das hier ist ernst, oder?«, fragt sie flüsternd. »Ich hab schon einige Schulevakuierungen mitgemacht, aber nie eine wie diese.«
Ich will ihr gerade zustimmen, als eine kleine Stimme aus dem hinteren Teil des Busses fragt: »Wo ist Beth?«
»Was?«, frage ich. »Was hast du gesagt?«
»Beth Cragg«, wiederholt das Mädchen mit der Brille und den blonden Locken besorgt. »Sie ist nicht hier. Sie war bei uns in der Klasse, aber sie ist nicht im Bus.«
»Genau wie Augie«, sagt jemand anderes. »Augie ist auch nicht hier. Sie war direkt hinter mir, als ich aus dem Fenster geklettert bin. Wo sind die beiden?«
WILL
Der Himmel hinter dem Fenster des Cafés war marmorgrau, und der Wind rüttelte an der Scheibe. Die Straße, die vor dem Lonnie’s entlanglief, war bis auf das ätherische Toben des Schnees wie ausgestorben.
Wills Magen wehrte sich gegen die fünf Tassen Kaffee, die er getrunken hatte. Er wusste, er sollte etwas essen. Vorhin hatte er Daniel angerufen, der jedoch nur wenige Sekunden für ihn erübrigen konnte, um ihn über den Stand bei den kalbenden Kühen zu unterrichten. Die Mutter schien ein paar Probleme zu haben, aber nichts, womit er nicht alleine zurechtkäme. Will fragte sich, ob es nicht sinnvoller wäre, wenn er zur Farm zurückkehrte und Daniel half, anstatt hier bei Lonnie’s zu sitzen und nichts zu tun, als zu warten.
Er beschloss, sich ein Sandwich zu bestellen, um den ekelhaften schwarzen Kaffee aufzusaugen, der in seinem Magen blubberte. In dem Moment wurde die große Fensterscheibe von einem Paar Scheinwerfer erhellt. Schweigen legte sich über das Café. Aller Augen richteten sich auf das ankommende Fahrzeug, das langsam groß und gelb aus dem Schneesturm auftauchte. »Das ist ein Bus!«, rief jemand unnötigerweise. Die vordere Tür des Busses öffnete sich, und der Deputy Sheriff trat heraus, gefolgt von zitternden, benommenen Gestalten.
»Oh mein Gott«, hauchte eine Frau. »Das sind die Kinder.« Eine Kakofonie von Seufzern erhob sich, Stühle schrammten über den Boden, das Geräusch von schlurfenden Füßen erfüllte die Luft.
»Das ist tatsächlich ein Bus voller Kinder«, bestätigte jemand.
»Ich sehe Noah Plum und Drew Holder!«, rief eine Stimme.
»Donna, ich sehe deinen Caleb«, sagte eine andere.
Die Kinder wurden eines nach dem anderen vom Wind in das Café gefegt, und Mütter und Väter schlossen sie in tränenreicher Erleichterung in ihre Arme. Will sah, dass es sich um Schüler aus Augies Klasse handelte. Er reckte den Hals in der Hoffnung, den knallroten Haarschopf seiner Enkeltochter irgendwo zu sehen.
Am letzten Wochenende erst hatte Augie eines von Marlys’ Haarfärbesets gefunden und sich in dem einzigen Badezimmer eingeschlossen. Will und P. J. hatten eine Ewigkeit abwechselnd gegen die Tür gehämmert, dass sie sich beeilen möge. Irgendwann war sie dann mit rot gefärbten Haaren herausgekommen, genau wie ihre Großmutter sie trug. Nur dass die Farbe an Marlys aussah, als versuche eine ältere Frau, jünger zu wirken, während sie bei Augie einfach wie eine rote Pflaume auf dem Kopf thronte. Er hatte versucht, nicht zu lachen,
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