Bis zum letzten Atemzug
Oliver schaute zu ihrem Schreibtisch, in dem ihr Handy lag. Wenn sie es nur irgendwie in die Hände kriegen könnte.
AUGIE
Bei jedem Schritt auf P. J.s Klassenzimmer zu habe ich das Gefühl, einen immer größer werdenden Fehler zu begehen, aber ich kann trotzdem nicht anders. Ich bin so eine schlechte Schwester. Vor Kurzem saßen wir zusammen mit Grandpa im Wohnzimmer und schauten fern. Als Grandpa eingeschlafen war, habe ich zu einer Dokumentation über Serienmörder geschaltet. Der Reporter sprach davon, dass Wissenschaftler die Gehirne von ganz vielen Mördern untersucht hätten und dabei herausgefunden haben, dass viele von ihnen als Kind Kopfverletzungen erlitten hatten. Ich habe zu P. J. geschaut und wusste genau, was er dachte. Als ich fünf Jahre und P. J. erst ein paar Wochen alt gewesen war, hatte ich beschlossen, von zu Hause wegzulaufen. Meine Mom und mein Dad stritten sich immer nur, sie schrien einander an und fluchten und warfen sich gegenseitig böse Sachen über P. J. an den Kopf. Ich ertrug es einfach nicht mehr. Also packte ich eine Tasche mit meinen Sachen und mit Windeln und einem Fläschchen für P. J. Dann kletterte ich über das Gitter in sein Bettchen. Er schaute mich mit seinen dunklen Augen an, die niemals blau werden würden wie die von meinem Dad, und schien zu warten, was ich als Nächstes tun würde. Er war erstaunlich schwer für so ein kleines Baby. Ich dachte, ich könnte mich einfach über die Gitterstäbe beugen und ihn vorsichtig auf den Boden legen. Ich wollte ihn nicht fallen lassen, doch ich tat es, direkt auf seinen kahlen Kopf. Er brauchte ein paar Sekunden, um Atem zu holen, bevor er schreien konnte, doch als er es dann tat … wow. Ich sprang aus seinem Bettchen, packte meine Büchertasche, stürzte durch die Tür und rannte und rannte, bis ich mich schließlich zehn Straßenzüge von zu Hause entfernt vor dem Bang! wiederfand – dem Friseursalon, in dem meine Mom arbeitete. Ich saß vor der Tür in der kochend heißen Sonne und wartete, bis mein Dad in seinem Truck vorbeikam. »Steig ein, Augie«, sagte er.
»Nein«, erwiderte ich dickköpfig, obwohl ich von der Sonne schon ganz verbrannt war und außerdem höllischen Durst hatte.
»Augie!«, sagte er wütend. Dann öffnete er die Tür und stieg aus. Ich fragte mich, ob ich ihn wohl jemals wieder lächeln sehen würde. »Steig in das verdammte Auto.«
»Nein«, wiederholte ich und schlang meine Knöchel um das Bein der Bank und klammerte mich mit den Händen an der metallenen Armlehne fest. Er würde die gesamte Bank inklusive mir darauf auf die Ladefläche seines Trucks werfen müssen, um mich nach Hause zu kriegen. Ich kniff die Augen zusammen, als er auf mich zukam und ich seine Hände unter meinen Armen fühlte. Er versuchte, mich hochzuheben. »Aaaahhh«, rief ich, weil ich aus Erfahrung wusste, dass ihn das sofort innehalten lassen würde. Mein Dad mochte es nicht, wenn die Leute ihn anschauten, als würde er sein Kind misshandeln. Er ließ mich los. Ich öffnete ein Auge ein wenig, um zu sehen, ob er aufgegeben hatte und weggefahren war. Doch kein Glück. Mein Dad hockte vor mir und bedeckte seine Augen mit einer Hand.
»P. J. ist mit deiner Mom im Krankenhaus«, sagte er leise. Seine Stimme klang seltsam gepresst. Der Klang gefiel mir überhaupt nicht, und ich öffnete beide Augen. »Du hast ihn auf den Kopf fallen lassen, Augie. Was hast du dir dabei gedacht? Du weißt, dass du ihn nicht hochheben sollst, wenn deine Mutter oder ich nicht in der Nähe sind.« Das ist ja lächerlich, dachte mein fünfjähriges Ich. Ich hatte nie gesehen, dass mein Dad P. J. hochnahm. Er schaute ihn immer nur an, als wäre er etwas aus einem meiner Ripley’s Einfach unglaublich !-Büchern. »Komm schon, Augie, ich meine es ernst. Du hättest ihm großen Schaden zufügen können. Du hast Glück gehabt, dass er nicht gestorben ist.«
Mein Herz schwoll vor Sorge an. Das hatte ich nicht gewollt. Ich hatte doch nur mit P. J. vor dem Geschrei und dem Gezanke weglaufen wollen. »Hört auf zu streiten«, sagte ich. »Hört auf zu streiten, und ich komme nach Hause.«
Mein Dad stieß ein seltsames Geräusch durch seine Nase aus, beinahe ein Lachen, aber nicht ganz. Ich hatte das nicht lustig gemeint. »Okay, Augie«, sagte er mit ruhiger, trauriger Stimme. »Wir streiten uns nicht mehr. Ich verspreche es.« Ich löste meine Beine von der Bank und ließ es zu, dass mein Dad mich hochhob und zum Truck trug. P. J. musste die
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