Bis zum letzten Atemzug
kaufte auch Sachen für mich. Ohrringe oder ein angesagtes Paar Schuhe, aber ich konnte das nie richtig genießen. Doch in einer Sache ist meine Mom richtig gut: Sie weiß immer, wann es mir schlecht geht. Und sie weiß außerdem, wann es Sinn hat, mich dazu zu bringen, mit ihr zu reden, und wann sie mich besser in Ruhe lässt. Die Mütter meiner Freundinnen kriegen das überhaupt nicht auf die Reihe. Die drängen und fragen so lange, bis man nur noch schreien möchte. Obwohl ich jeden Abend mit meiner Mom spreche und sie mir erzählt, was in Arizona los ist und wie ihre Physiotherapie läuft und wie toll und gleichzeitig nervtötend Grandma Thwaite ist, habe ich das Gefühl, dass es zwischen uns nie wieder so sein wird wie zuvor.
Sie hat allen Grund, mich zu hassen, aber am Ende eines jeden Telefonats sagt sie immer das Gleiche. Ich liebe dich, Augie. Ich stelle mir vor, wie sie das Telefon in den vernarbten Händen hält, die einst so schön waren. Ich erinnere mich daran, wie sie ihre Nägel zu perfekten rosafarbenen Ovalen gefeilt hat, während ich versuchte, meine eigenen zersplitterten, abgekauten Fingernägel hinter meinem Rücken zu verbergen. Ich liebe dich, Augie, wiederholt sie dann. Ich kann es nur nicht zurückgeben.
Ich will es, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Tschüss, Mom, sage ich immer nur und gebe den Hörer dann schnell an P. J. oder Grandpa weiter.
Dann laufe ich aus dem Haus, stoße die Tür extra hart auf, weil ich weiß, dass Grandpa Thwaite es hasst, wenn ich die Fliegentür zuknallen lasse. Ich laufe in die Scheune, wo ich mich verstecken und» Ich liebe dich auch, Mom « flüstern kann und nur die Kühe mit den großen traurigen Augen mich hören.
Ich zwinge mich, aufzustehen. Ich kann hier nicht ewig herumsitzen und davon träumen, im Warmen und zurück in Revelation zu sein. Ich muss P. J. holen, ihm sagen, dass er kein Serienmörder ist, und ihn hoffentlich lebendig aus der Schule kriegen. Dann können wir morgen das Flugzeug nach Revelation besteigen und niemals hierher zurückkehren.
MEG
Ich gehe zurück zum Parkplatz und frage herum, bis ich die kleine Faith Garrity finde. Sie sitzt in einem der Krankenwagen und wird gerade von einem Rettungssanitäter untersucht.
»Wie geht es dir, Faith?«, frage ich.
»Ihr geht es gut«, versichert der Sanitäter mir. »Wann immer ihr bereit seid, kann sie zu Lonnie’s gebracht werden.«
»Was meinst du, Faith? Bist du bereit, deine Mom und deinen Dad zu sehen?«
Sie nickt, und der Sanitäter hebt sie vorsichtig aus dem Krankenwagen. »Bist du schon jemals in einem Streifenwagen mitgefahren?«, frage ich sie. Sie schüttelt den Kopf.
»Na, dann ist heute dein Glückstag.« Ich greife nach ihrer Hand, und Faith schenkt mir ein scheues Lächeln.
»Wo ist Augie?«, fragt sie, als ich sie auf dem Rücksitz meines Wagens anschnalle.
»Augie wollte nach ihrem kleinen Bruder sehen, aber wenn ich sie sehe, sage ich ihr, dass du nach ihr gefragt hast.« Mich juckt es, Faith Fragen darüber zu stellen, was in der Schule vorgefallen ist, obwohl ich weiß, dass ich damit warten sollte, bis sie bei ihren Eltern ist und die mir die Erlaubnis geben, sie zu befragen.
Wir haben den Parkplatz noch kaum verlassen, da fängt Faith von alleine an zu sprechen. »Ich wette, sie ist zu Mrs Olivers Klassenzimmer zurückgegangen.«
Ich bin sofort hellwach. »Oh?« Ich versuche, leichthin zu klingen.
»Sie ist die Lehrerin der dritten Klasse. Sie ist echt alt, aber sehr nett, finde ich.«
»Hm«, murmel ich und hoffe, dass sie noch mehr sagt.
»Ihr Bruder ist in Mrs Olivers Klasse. Sie hat gesagt, sie will ihn holen.«
»Faith«, sage ich. »Hast du in der Schule einen Mann gesehen? Vielleicht einen, der da nicht hingehört?«
Sie schweigt einen Moment. Wir biegen vor dem Lonnie ’s ein, wo Faiths Eltern ohne Zweifel auf sie warten. Ich weiß, in der Minute, in der sie durch die Tür des Cafés geht, verliere ich sie als Zeugin. Durch die hell erleuchteten Fenster sehe ich Tische voller verängstigt aussehender Eltern. Ich habe nur wenige Minuten. Ich stelle die Automatik auf Parken und drehe mich in meinem Sitz zu Faith um. »Faith, hast du irgendetwas gesehen, das Augie helfen könnte?«
Das Mädchen sieht sich nervös um.
»Hab keine Angst«, sage ich. »Außer mir kann dich hier drinnen niemand hören.«
Einige der Eltern im Lonnie’s haben bemerkt, das vor dem Café ein Auto angehalten hat. Sie kommen ans Fenster, schirmen ihre
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