Bismarck 01
der Sache nicht fertig werden!« Der zwanzigjährige Auskultator hatte nun vier Monate am Kriminalgericht protokolliert, wobei die Untersuchungen des Jahres 1835 sich besonders geeignet zeigten, die Moralität eines so jungen Menschen zu fördern. Homosexualität blühte schon damals bis in sehr hohe Kreise hinauf, und die umfangreichen Akten eines solchen Monstre-Prozesses wurden zuletzt vom Justizministerium eingefordert und nicht zurückgegeben. »Was wollen Sie! Seine Durchlaucht Fürst Wittgenstein sind, wie man sagt, gegen öffentliches Aufdecken dieser traurigen Dinge!« raunte der Rat v. Brauchitsch seinem jungen Auskultator zu, dessen schnelleund leserliche Schreibart zumeist in den Protokollen prangte. Verschleppt und niedergeschlagen, das läßt tief blicken, pfui Teufel! dachte der durchaus keusche und geradezu antierotische Jüngling, dessen gesunde Bärenkraft wohl dem Bacchus, doch gar nicht der Venus huldigte. Und nun, zur Behandlung von Zivilsachen ans Stadtgericht befördert, bekam er ausgerechnet für Ehescheidungen ein Dezernat unter Leitung des ewig schlaftrunkenen Rates Prätorius, den er diesmal wieder aus der Siesta in seinem Amtszimmer weckte. Der alte Herr sah ihn böse an. »Achjottedoch, die Herren vom Adel sollten doch lieber beim Militär bleiben!« Die bürgerlichen Beamten empfanden fast alle einen zeitgemäßen Haß gegen alle Junker, wie er seit den Befreiungskriegen in der gesamten Bürgerschaft herrschte und bei jeder Gelegenheit unangenehm hervorbrach. »Es ist verdrießlich, Herr Referendarius, wenn man sich nicht ein bißchen zu helfen weiß.« Im Terminszimmer lispelte Rat Prätorius das hadernde Ehepaar an, ohne daß dieses Vernunft annahm, und diktierte dann hochtrabend: »Nachdem die dem Gebiete der Moral und Religion entnommenen Gründe erfolglos blieben, wurde weiterverhandelt.« Worauf er den Referendar anschnauzte: »Nun merken Sie sich künftig, wie man das macht.«
Solche fehlschlagenden Sühneversuche und Scheidungsklagen mochten freilich die Menschenkenntnis bereichern, nicht aber die lebensfreudige Stimmung. Bei Bagatellprozessen mit Vernehmung von Zeugen beauftragt, vermehrte der junge Herr seine juristische Schulung durch kräftige Entladungen seiner Ungeduld. »Herr, nehmen Sie sich in acht!« donnerte er einen ungebärdigen Zeugen an, »oder ich lasse Sie hinauswerfen!« »Herr Referendar,« berichtigte der Richter hinter seinem hölzernen Gitter, »das Hinauswerfen ist meine Sache!« Worauf jener das Kreuzverhör mit der Drohung fortsetzte: »Ich werde Sie durch Herrn Stadtgerichtsrat hinauswerfen lassen!« Gelächter des Publikums, Stirnrunzeln des Richters, doch das unverfrorene Machtgefühl des jugendlichen Juristen ließ sich nicht bändigen, seine Stentorstimme erfüllte den Raum. –
Um die unbefriedigende Langeweile seiner dienstlichen Tätigkeit zu würzen, machte Otto viele Besuche in vornehmen Häusern und ging oft in Gesellschaft, ohne aber Geschmack daran zu gewinnen.
»Wie hast du dich amüsiert?« frug seine Schwester, die leidenschaftlich tanzte und auch dem Kokettieren nicht abhold schien, nachdem er beim russischen Gesandten Ribeaupierre seinen ersten Eintritt in die »große Welt« gemacht. »Middling«, antwortete er gähnend. »Die grand monde ist ziemlich klein.« »Tu' doch nicht so blasiert! Sind die russischen Herrschaften nicht lieb?« »Ja. So 'ne Mischung von Juchtenleder und Pariser Parfüm. Ein ganz exotischer Duft, wenigstens was Apartes in unserer zivilisierten Hausbackenheit und bombastischen Politesse. Gute Manieren habenbloß Engländer und Russen.« Seine gesellschaftlichen Sitten hatte er gut abgeschliffen und bewegte sich auf dem Parkett als eleganter Tänzer, doch blieb ihm dabei jede erotische Regung fern, weder Ausschweifung noch sentimentale Jugendeselei verlockten ihn. Seine Leidenschaften gingen nach ganz anderer männlicher Richtung. In den Ferien, schon zu seiner Gymnasialzeit, bildete er sich auf dem Pommerngute Kniephof zum sicheren Schützen und tollkühnen Reiter aus, so daß sein würdiger Vater, der alte Rittmeister, seine helle Freude daran hatte. »Der sitzt im Sattel wie Pluvenal, Stallmeister des vierzehnten Louis, oder wie Hilmar Cura, der Friedrich dem Großen das Reiten lehrte.« Wie ein englischer Squire haßte Junker Otto das Stadtleben.
»Ach reden Sie nich, Harry!« fuhr er einen guten Bekannten an, den jungen Grafen Harry Arnim, mit dem er seit Kinderjahren liiert war. »Für Süßholzraspler
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