Bisswunden
den Weg.
»Verschwinde, du Scheißkerl!«, schreie ich ihn an.
Er will nach mir greifen, doch ich drehe mich um die eigene Achse und weiche in Richtung der Gebäude aus. Ohne michumzusehen, renne ich den Hügel hinunter in Richtung Bayou, wo im Schatten einer Wand aus Bäumen die alte Scheune steht, die meinem Vater in seinen letzten Jahren nicht nur als Atelier, sondern auch als Schlafplatz gedient hat. Hier bin ich sicher. Hinter mir ertönen Rufe. Ich erkenne Pearlies Stimme darunter, doch ich renne weiter und rudere dabei mit den Armen wie ein von Panik erfülltes kleines Mädchen.
22
I ch komme nicht in die Scheune. Zum ersten Mal in meinem Leben ist der Zufluchtsort meines Vaters für mich versperrt. Das Haupttor ist mit einem Vorhängeschloss gesichert, und die geheimen Zugänge, die ich jahrelang benutzt habe, sind vernagelt. Wenn ich eine Leiter finden könnte, würde ich es mit der Giebeltür versuchen, doch als ich mich suchend umsehe, höre ich Pearlie nach mir rufen, die sich vom Haus her nähert.
Sie kommt in ihrer weißen Uniform den Hügel hinuntergerannt. Dass sie weit über siebzig ist, scheint ihre Geschwindigkeit in keiner Weise zu beeinträchtigen. Ihre Bewegungen sind ungelenk und abgehackt und verleihen ihr das Aussehen einer Marionette, die durch unsichtbare Fäden kontrolliert wird, doch sie ist schnell. Ich warte vor der Scheune und beobachte sie, während ich überlege, was sie mir so Wichtiges zu sagen haben mag. Die Luft hier riecht nach dem Bayou hinter der Scheune – verwitternde Vegetation, tote Fische, Frösche, Schlangen, Skunks. Die Moskitos waren schon immer eine Plage hier unten, doch Daddy schienen sie nie etwas auszumachen.
»Was machst du hier?«, ruft Pearlie mir entgegen.
»Ich will in die Scheune.«
Sie bleibt hechelnd ein paar Schritte vor mir stehen. »Warum?«
Weil ich meinem Vater nah sein will. Weil sein Grab mir nichts gibt. Weil ich hier, wo seine letzten Skulpturen lagern – auf meine Bitte hin nicht verkauft –, eine Verbindung zu ihm empfinde, die niemals abgestorben oder auch nur verblasst ist …
»Ich will eben hinein«, sage ich schroff. »Warum ist sie abgesperrt?«
»Weil alle Metallarbeiten von Mr. Luke hier drin verwahrt werden.«
»Alle? Ich dachte, es wären nur noch ein paar nicht verkaufte Stücke übrig?«
»Das war einmal so. Doch dein Großvater hat die anderen alle aufgekauft. Wann immer ein Stück zum Verkauf kommt, erwirbt er es. Er hat mindestens zehn davon in der Scheune stehen. Auch ganz große.«
»Aber warum?«, frage ich fassungslos. »Großvater mochte Daddys Arbeiten nie.«
Pearlie zuckt die Schultern. »Anscheinend steckt Geld dahinter, irgendwie. Diese Statuen sind doch Geld wert, oder? Ein paar davon hat er von weit her, aus Atlanta.«
»Ein paar Sammler halten sie für wichtig, ja. Aber sie sind nicht die Sorte Geld wert, die sie für Großvater interessant machen würden.«
Pearlie kommt näher und blickt mir in die Augen. »Was ist da oben im Wagen passiert? Warum bist du so davongerannt?«
Ich wende mich ab und blicke zum Scheunentor. »Großpapa hat mir erzählt, wo Daddy wirklich gestorben ist.«
Pearlie kommt um mich herum, bis sie wieder Blickkontakt hat. Ich entdecke Angst in ihren Augen.
»Wovor fürchtest du dich, Pearlie? Was glaubst du, hat er mir erzählt?«
»Ich fürchte mich vor gar nichts! Du sagst mir auf der Stelle, was er gesagt hat!«
»Er hat mir erzählt, dass Daddy nicht unter dem Baum gestorben ist. Er wurde in meinem Zimmer erschossen, als er versucht hat, mich vor dem Einbrecher zu retten.«
Pearlie steht wie erstarrt da. »Was hat er sonst noch gesagt?«
»Er hat gesagt, dass du ihm geholfen hast, Daddys Blut von den Wänden und vom Boden abzuwaschen.«
Die alte Frau senkt den Kopf.
»Wie konntet ihr das tun? Wie konntet ihr mich all die Jahre belügen?«
Pearlie schüttelt den Kopf, ohne den Blick zu heben. »Ich bin nicht traurig, dass ich das Blut weggemacht habe. Es hätte dir nicht gut getan, wenn du etwas anderes erfahren hättest als das, was wir dir gesagt haben.«
»Woher willst du das wissen? Ist es nicht immer besser, die Wahrheit zu kennen, ganz gleich, wie sie aussieht?«
Sie blickt auf, und ihre Augen glänzen feucht. »Vielleicht bist du noch nicht alt genug, um es gelernt zu haben, aber manchmal ist es besser, nichts zu wissen. Ganz besonders, wenn man eine Frau ist.«
»Was soll das nun wieder bedeuten?«
»Wenn jeder wüsste, was alle wirklich die ganze
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