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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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übersteigen, doch ihre Schönheit hat ihr stets mehr Sorgen als Glück gebracht, und mit fünfzig war sie größtenteils verschwunden. Heute hängen ihre Backen über den so oft bewunderten Wangenknochen wie die zerfetzten Segel an den Masten eines einst stolzen Clippers. Ich sehe das Spinnengeflecht von kleinen Äderchen in ihrem Gesicht und betaste mein eigenes in dem Wissen, dass ich eines Tages den gleichen Preis für meinen heimlichen Alkoholismus zahlen werde.
    »Was hattet ihr beide unten beim Bayou zu suchen?«, ruft meine Mutter uns entgegen. »Die Moskitos fressen euch da unten bei lebendigem Leibe!«
    »Ich wollte einen Blick in die Scheune werfen«, antworte ich. »Ich wollte mir einige von Daddys Arbeiten ansehen.«
    Das Lächeln verschwindet aus Moms Gesicht. »Die Scheune ist abgesperrt.«
    Ann stellt ihren Koffer ab, kommt zu mir und umarmt mich fest und schwesterlich – nicht so flüchtig, wie meine Mutter es vorzieht. Dann macht sie einen Schritt zurück und blickt mich an. Ihre Augen sind so blau wie die meines Großvaters und beinahe genauso durchdringend. »Wenn ich es nicht besser wüsste, Cat, würde ich sagen, dass du geweint hast!«
    Ich schüttele den Kopf, während ich mich frage, ob Ann ebenfalls weiß, wo Dad wirklich gestorben ist.
    »Gut. Das ist nämlich meine Domäne. Wie geht es dir denn so in New Orleans?«
    »Prima. Alles bestens.«
    Sie nickt, doch es ist unübersehbar, dass sie mir nicht glaubt. »Und? Triffst du dich hin und wieder mit einem Vertreter des männlichen Geschlechts?«
    »Ich habe einen Kerl, ja.«
    »Hübsch?«
    Ich zwinge mich zu einem Lachen, nach dem mir nicht zumute ist. »Ja.«
    »Das freut mich für dich. Jeder Mann bringt einen mit der Zeit ein Stück weiter runter, also kannst du dir genauso gut einen aussuchen, der wenigstens ein halbwegs hübscher Anblick ist.«
    Ann schenkt mir ein verschwörerisches Zwinkern, doch ich schaffe es nicht, mich zu einem weiteren Lacher aufzuraffen. In ihren Augen bemerke ich ein Glitzern, das in mir die Frage weckt, ob sie gerade in einer manischen Phase steckt.
    »Ann fährt bald zurück zur Küste«, sagt meine Mutter in diesem Augenblick. »Vorher werden wir zusammen im Castle brunchen. Warum ziehst du dir nicht ein paar hübsche Sachen an und leistest uns dabei Gesellschaft?«
    Das ist wirklich das Letzte, was ich im Moment möchte. Auf der anderen Seite ist das Betrachten einiger Skulpturen meines Vaters in den Augen meiner Mutter keine ausreichende Entschuldigung. »Das würde ich wirklich gerne – aber ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen.«
    Mom sieht mich verärgert an. »Zum Beispiel?«
    Ich suche nach einer Ausrede, irgendeiner, um das Essen ausfallen zu lassen. »Dr. Wells hat mich zum Schwimmen in seinen Pool eingeladen.«
    Ann zwinkert erneut. »Das klingt viel besser, als mit uns zusammen zu essen. Geh nur, Cat. Wir sehen uns dann später.«
    Im beiläufigsten Tonfall, der mir nur irgendwie möglich ist, frage ich meine Mutter: »Mom, wo überall in der Stadt sind Vaters Skulpturen ausgestellt?«
    »Oh … in der Bücherei steht eine. Und drüben im Gebäude der Vietnamveteranen im Duncan Park haben sie auch noch eine, den Helikopter. Bis auf diese beiden und das Zeug in der Scheune ist alles in Privatbesitz. Die meisten Stücke sind weit weg von Natchez.«
    Ich umarme Ann ein weiteres Mal, dann werfe ich einen Blick zu Pearlie, die unserer Unterhaltung wie ein schweigender Wächter gefolgt ist – und mache mich auf den Weg zwischen den Bäumen hindurch in Richtung von Michael Wells’ Haus.
    Mein Plan ist es, kehrtzumachen, sobald Ann und meineMutter davongefahren sind, doch sie stehen beim Acura und unterhalten sich mit Pearlie, als hätten sie alle Zeit der Welt. Mir bleibt nicht viel anderes übrig, als meine Scharade weiter zu spielen, und so wandere ich tiefer in den Wald.
    Zu meiner Rechten bewegt sich irgendetwas zwischen den Stämmen, und ich schrecke zusammen. Dann erkenne ich Mose, unseren alten Gärtner. Er stellt Maulwurfsfallen im dürren Gras unter den Bäumen auf, keine dreißig Meter von mir entfernt. Als ich ihn so gebeugt dastehen sehe, muss ich an Großvaters Beschreibung des Eindringlings denken, der in der Nacht von Daddys Tod davongerannt ist. Er war ein Schwarzer. Könnte es sein, dass es Mose war? Er lebt seit Jahrzehnten auf dem Besitz, und er hat schon immer eine Menge getrunken. Mir kommt der Gedanke, dass er vielleicht mit meinem Vater irgendwelche Drogengeschäfte

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