Bisswunden
Zeit tun und denken, wären eine ganze Menge mehr Leute im Gefängnis. Und es wäre kaum noch eine Familie zusammen. Kaum jemand wäre noch mit irgendjemandem zusammen, ganz besonders bei uns Schwarzen.«
»Ich will aber die Wahrheit, Pearlie! Ich will nicht beschützt werden. Ich will nicht, dass man mich belügt! Ich will die Wahrheit, ganz egal, wie schlimm sie ist!«
»Du weißt nicht, was du sagst, Mädchen! Du denkst, du weißt es, aber du weißt gar nichts.«
Ich packe sie am Arm. »Du weißt alles, was jemals in dieser Familie passiert ist. Was hast du mir sonst noch alles verschwiegen?«
»Nichts! Was Dr. Kirkland in dieser Nacht getan hat, daswar richtig! Es hätte doch niemandem genutzt, wenn alle darüber reden, dass du vielleicht vergewaltigt worden bist! All die alten weißen Ladys hätten jedes Mal, wenn du einen Raum betrittst, hinter deinem Rücken giftiges Zeug getuschelt. Das wollten wir dir nicht aufbürden. Nicht in dieser kleinen Stadt.«
»Es ist mir völlig egal, was andere Leute tuscheln oder denken! Es ist mir heute egal, und es war mir damals egal. Das weißt du!«
Pearlie nickt. »Du bist ein starkes Mädchen, ja, ja. Warst schon immer stark. Aber dieser Skandal war überflüssig. Wir wollten nicht, dass er dir nachhängt. Und jetzt komm mit zurück ins Haus. Dr. Kirkland hat den einzigen Schlüssel zu der alten Scheune. Du musst warten, bis er dich reinlässt, und er ist jetzt zu seinem Meeting gefahren.«
Ich zucke zusammen, als mein Mobiltelefon »U2« piepst. Es ist Sean. Mein erster Impuls ist, den Anruf zu ignorieren, doch irgendetwas lässt mich das Gespräch entgegennehmen.
»Was gibt’s?«, frage ich.
»Halt dich fest«, sagt Sean, und seine Stimme klingt rau vom Alkohol der vergangenen Nacht. »Um acht Uhr heute Morgen hat Nathan Malik sein Schweigen gebrochen und die Namen seiner Patienten genannt.«
Ich kann es nicht glauben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mann, der bei den Roten Khmer in Gefangenschaft gewesen ist, nach einer einzigen Nacht im Parish Prison nachgibt. »Ist er schon aus dem Gefängnis?«
»Jepp. Und wir waren genauso misstrauisch, wie du es jetzt bist. Warum sollte Malik für ein Prinzip ins Gefängnis gehen und dann plötzlich anfangen zu reden? Es ist beinahe so, als hätte er es um der Publicity willen getan – und nachdem er sie hatte, gab er nach. Na ja, und Kaiser hat plötzlich gemerkt, dass wir ohne die medizinischen Aufzeichnungen Maliks keine Möglichkeit haben, die Namenliste auf Vollständigkeit zu überprüfen. Also hat er einen weiteren Gerichtsbeschluss besorgt, der uns ermächtigt, die Liste mit Maliks Computerdateien zuvergleichen. Und was soll ich dir sagen? Es gab keine Aufzeichnungen. Die Festplatten in Maliks Büro waren leer. Absolut sauber.«
Das glaube ich gerne. »Die Daten können doch bestimmt wiederhergestellt werden. Ihr müsst nur …«
»Du hörst mir nicht zu, Cat. Die Daten sind verloren. Weg. Alle. Der fbi-Techniker sagt, um so etwas zu bewerkstelligen, braucht man jemanden, der sich wirklich gut mit Computern auskennt.«
»Malik könnte es selbst getan haben.«
»Warte … ich muss weg, Cat. Die Dinge überschlagen sich im Augenblick. Ich vermisse dich.«
Er beendet das Gespräch, und ich fühle mich plötzlich völlig aus meinem alten Leben gerissen.
»Schlechte Neuigkeiten?«, fragt Pearlie.
»Keine guten jedenfalls«, antworte ich, während ich mich frage, ob die Liste von Patienten, die Malik der Polizei übergeben hat, auch nur einen einzigen aktuellen Namen enthält.
Zögernd wende ich mich von der alten Scheune ab und folge Pearlie den Hügel hinauf.
Als wir den Parkplatz erreichen, kommen meine Mutter und Tante Ann aus dem Rosengarten. Jede der beiden Frauen rollt eine Hälfte eines zueinander passenden Sets von Louis-Vuitton-Koffern. Auf diese Entfernung hin könnten sie Zwillinge sein, doch als wir näher kommen, zeigt sich Anns wirkliches Alter in ihrem Gesicht. Sie ist nur vier Jahre älter als meine Mutter, doch sie zahlt den Preis für Jahre des Alkoholmissbrauchs und des ausschweifenden Lebens. Eine Freundin von mir aus Natchez hat ein Buch über ihre bewegte Familie geschrieben. Eine Zeile darin lautet: Schöne Frauen sind wie Spukschlösser. Ich muss immer an diese Zeile denken, wenn ich Tante Ann sehe. Sie war diejenige, der die Jungs immer nach Hause gefolgt sind. Ihr Gesicht hat auch heute noch jene klassischen Proportionen, die gewöhnliche Kleinstadt-Attraktivität
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