Bittere Delikatessen
lange auf das Ticket warten müssen, zu lange. Es war sein eigenes Verschulden gewesen. Der große Tröster. Ria wusste davon. Wer noch?
Schwalben jagten in waghalsigem Flug laut sirrend um die Dächer. Viel hatte sich seit den Jahren des Streifendienstes nicht geändert. Es war die gleiche Mischung aus heruntergekommenen Altbauten und billigen Mietshäusern aus den Fünfzigerjahren. Nur wenige Gebäude waren saniert worden.
Bens Beine schmerzten an den Stellen, wo die Tritte des Mädchens ihn getroffen hatten. Plötzlich tat sie ihm leid. Sie hatte niemandem etwas getan. Trotzdem hatte er sie Vogel zum Fraß vorgeworfen und Tausenden von sabbernden, sensationsgeilen Blitz -Lesern. Er hätte sie nicht so entwürdigen dürfen.
Ben beschloss, zum Auto zurückzukehren.
Bon Jovi hatte die Guns 'n' Roses abgelöst. Vereinzelt huschten Silhouetten hinter gardinenverhangenen Fenstern. Irgendwo schepperte eine Blechdose. Ben kramte in der Hosentasche nach dem Autoschlüssel.
Plötzlich hörte er Geschrei.
»WO WARST DU DIE GANZE ZEIT?« – »RÜHR MICH NICHT AN!«
Ein Klatschen wie von Ohrfeigen, zweimal, heftig. Das Aufheulen einer Frau in einem der Hauseingänge weiter vorn.
Vor Bens Augen wurde es weiß, dann rot.
Ben rannte. Ein Mann schüttelte die Frau und holte zu einer weiteren Ohrfeige aus. Ben packte ihn und riss ihn herum. Der Mann verlor das Gleichgewicht. Als er Bens Augen sah, wollte er sich losreißen und ins Haus fliehen, doch es war zu spät. Ben schlug ihm die Rechte hart ins Gesicht. Der Mann nahm die Hände hoch, und Ben bearbeitete die Rippen.
»Aufhören!«, rief die Frau.
Der Mann ging endgültig zu Boden, und Ben trat zu. Der andere wimmerte und wollte sich durch die offene Tür ziehen. Ben trat noch einmal zu.
»Aufhören!«, wiederholte die Frau und berührte seinen Arm.
Ben sah zu, wie der Mann ins Haus kroch, und gab ihr ein Taschentuch. »Kann ich Sie nach Hause bringen?«
»Ich wohne hier. Was haben Sie mit meinem Mann gemacht?«
Ben rieb seine Knöchel. »Wo kann ich Sie hinbringen?«
»Zu meiner Mutter. Sie wohnt am anderen Ende der Stadt.«
»Warten Sie!« Ben betrat das Haus und knipste das Licht an. Der Mann kauerte auf dem Treppenabsatz und heulte auf, als er Ben sah. Ben packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich heran. »Du rührst diese Frau nicht mehr an! Verstanden?«
Der Mann nickte heftig.
»Sag es!«, forderte Ben.
»Was?«
Ben schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.
»Ich rühre sie nicht mehr an«, wimmerte der Mann.
Ben ließ ihn auf die Treppe gleiten.
Beim Einsteigen fiel das Licht der Innenlampe auf ihr Gesicht. Sie war nur wenig älter als Ben, vielleicht Anfang vierzig, herb, aber hübsch. Beide Wangenknochen waren von Schlägen gerötet, die Lippe blutig. Das rechte Auge hatte einen dunkelvioletten Schatten. Ihr Mann hatte sie also auch schon früher geschlagen.
»Was wollen Sie jetzt machen?«, fragte Ben.
»Ich weiß nicht.«
Ben roch, dass sie Alkohol getrunken hatte. »Suchen Sie sich einen anderen!«
Die Frau begann zu weinen.
Ben fuhr nach ihren Angaben, doch in Gedanken war er ganz woanders. Er fuhr wie ein Roboter, seine Gefühle waren gefangen in einer Welt, die fast dreißig Jahre zurücklag. Bald nahm er nicht einmal mehr wahr, ob die Frau neben ihm etwas sprach.
Nach zwanzig Minuten hielten sie vor einem Wohnblock. Vorplatz, Pflanzenkübel und Gebäude schienen aus der gleichen Sorte Beton gemacht zu sein. Die Gegend hatte die Art von Stil, der selbst die Gnade der Dunkelheit nichts von ihrer Trostlosigkeit nehmen konnte. Die Frau schnäuzte sich noch einmal in Bens Taschentuch. In ihrem Blick lag Verzweiflung.
»Danke«, sagte sie, zögerte jedoch auszusteigen.
Ihre Augen glänzten und musterten ihn fragend. Sie legte ihre Hand auf seinen Schenkel, und ihr Atem kam näher. Ben hörte etwas Weiches in ihrer Stimme: »Meine Mutter wird schon schlafen. Vielleicht ist es besser, wenn ich bei Ihnen übernachte.«
Ben gab sich einen Ruck. »Ich glaube nicht.«
»Sie sind groß und kräftig«, schmeichelte die weiche Stimme. »Sie haben mir geholfen. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken.« Ihre Hand glitt an Bens Bein hoch. »Bitte.«
Ben langte an ihr vorbei und öffnete die Beifahrertür.
»Ich bin sicher, dass Sie einen anderen finden werden. Schlafen Sie heute Nacht bei Ihrer Mutter! Und gehen Sie auf keinen Fall zu Ihrem Mann zurück! Verstanden? Er ist es nicht wert. Er wird sich nicht ändern.«
Sie stand regungslos
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