Bittere Delikatessen
gläsern fühlte, durchschaubar bis in die letzten Hinterstübchen seiner Gedanken und Gefühle.
Sie schlug das Buch zu. »Habe ich dir geholfen, Ben?«
»Ja. Ich glaube, sie braucht einfach jemanden, der sie bei der Hand nimmt.«
»Ach, denkst du dabei an jemand Bestimmtes?«
»Wieso?«
»Vergiss es. Ich kann mir jedenfalls vorstellen, dass diese Frau in ihrem Leben schon oft Männer hatte, die sie führen wollten. Zu viele. Sie muss lernen, selbstständig zu entscheiden und zu handeln, statt sich anzulehnen und unterzuordnen. Das ist viel wahrscheinlicher ihr Problem. Hoffentlich hat sie einen guten Therapeuten.«
»Sie macht Fortschritte, sagt sie.«
Ben war erleichtert. Sigrids Urteil war eine Art Freibrief für das gestrige Liebesstündchen mit Nora – und für den bevorstehenden Abend. Doch die Sorgenfalten waren nicht von Sigrids Stirn gewichen.
»Sollte sie allerdings doch die Mörderin sein, muss ich sie unbedingt kennenlernen. Versprichst du mir das? Das würde mich sehr interessieren.«
»Also kannst du es doch nicht ausschließen?«
»Natürlich nicht, was verlangst du von mir? Ich bin Psychologin, nicht der Papst. Ich kann mich irren, und manchmal tue ich sogar Dinge, die ich gar nicht tun sollte. Das weißt du doch.«
Ben wechselte rasch das Thema. »Wie geht es deinem Mann?«
Sie brach in herzliches Lachen aus. »Das interessiert dich doch nicht wirklich, Ben.«
»Du kannst das alte Spiel nicht lassen?«
»Nein. Ich spiele gern. Berufskrankheit.«
»Aber nicht mit mir, Sigrid. Nicht mehr.«
»Hast du dich wirklich geändert? Keine Rachefeldzüge mehr? Kein großer Tröster?«
»Nein. Damit ist seit damals Schluss. Ich zitiere wörtlich: Meine Persönlichkeit ist gefestigt, meine psychische Konstitution stabil. Ich habe es schwarz auf weiß. Amtlich.«
»Warum hast du danach nichts mehr von dir hören lassen?«
»Das weißt du selbst am besten. Du bist doch die Psychologin.«
»Auch wenn du glaubst, du seist jetzt ein anderer – ich bin immer noch an dem Fall interessiert.« Sie warf ihm den Blick zu, der bei seinem ersten Besuch gewirkt hatte.
Doch diesmal bedankte sich Ben und ging. Er mochte Sigrid, aber er würde nur wiederkommen, wenn es unbedingt sein musste. Es lag an ihrem Kaffee. An ihren professionellen Sorgenfalten. Und an ihrer verdammten Art zu spielen.
34.
Dieser Teil des Südfriedhofs glich mehr einem Wald als einem Park. Nur als leises, gleichmäßiges Rauschen drang der Lärm des Autobahnzubringers in diesen Winkel. In den Birken und Eichen raschelte der Wind, im Schatten darunter war von der Hitze wenig zu spüren. Ein Witwer in Shorts und mit Hosenträgern schleppte sich an zwei Gießkannen ab. Eine alte Frau zupfte Unkraut von einem Grab und schien auf diese Weise Kommunikation mit einem toten Angehörigen zu halten.
Ben passierte die Grabestempel alter Industriellenfamilien und staunte über den Pomp der verwitterten Bronzefiguren: weinende Jungfrauen, ein segnender Heiland, eine Sphinx. Er erreichte die Trauergemeinde in dem Augenblick, als der Sarg in die Erde glitt. Ben blieb in der Deckung zweier junger Kiefern stehen und beobachtete die Szene aus der Distanz.
Heinz Fabian war Bestandteil der lokalen Prominenz gewesen. Entsprechend groß waren der Berg an Kränzen und die Menge, die Schlange stand, um von dem toten Feinkostkönig Abschied zu nehmen. Einer nach dem anderen ging feierlich und gesenkten Hauptes am Grab vorbei, an Nora Fabian, Angelika Franke und dem Pfarrer. Einige bekreuzigten sich oder warfen etwas Erde dem Toten hinterher.
Asche zu verdammter Asche.
Ben konnte sich denken, was der Pfarrer zuvor in der Friedhofskapelle gesagt haben mochte. Was für ein guter Mensch der Verstorbene gewesen sei, wie groß die Trauer der Hinterbliebenen und wie hilfreich der Trost des Glaubens. Ben kannte die Sprüche und glaubte nicht daran.
Er brütete über dem, was Noras Mutter ihm erzählt hatte.
Angelika Franke hatte sich neu geschminkt und war kaum weniger attraktiv als ihre Tochter. Deren Gesicht war hinter einem Schleier verborgen, der an einem kleinen Hütchen hing. Ben staunte darüber, wie modisch und sexy ein Trauerkostüm sein konnte. Nora trug einen kurzen Rock, gemusterte Nylons und ein Oberteil, das hauptsächlich aus Spitze bestand. Beide hatten den Toten gehasst. Jetzt nahmen sie Beileidsbekundungen entgegen. Schauspielerinnen.
Ben erkannte das Walrossgesicht von Drago Ivanisevic inmitten anderer Angestellter des
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