Bittere Delikatessen
sollen sich bei ihm melden. Heute noch. Warum, das hat mir Sonntag nicht gesagt. Was ist? Haben Sie etwas ausgefressen, Swoboda?«
Der Dicke und Tommaso lachten.
33.
»Benni!«, rief die Frau hinter dem Schreibtisch erstaunt.
Ben sah sich im Sprechzimmer um. Er erinnerte sich daran, wie er sich über das Fehlen einer Couch mokiert hatte, als er den Raum zum ersten Mal betreten hatte. Bis auf den Kalender hatte sich nichts verändert.
»Mensch, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?«, fragte Sigrid Romberg. Sie kam hinter dem Tisch hervor und sah an ihm hoch.
»Du bist jetzt Kommissar, stimmt's?«
»Kriminaloberkommissar im K1, Tötungsdelikte.«
Sie nickte. »Klingt nicht schlecht.«
Ben spürte ihre Verlegenheit. Ihm ging es genauso. Sie gaben sich nicht einmal die Hand. Für einen Moment standen sie sich schweigend gegenüber. Sigrid hatte sich verändert, stellte Ben fest. Sie hatte abgenommen, Sorgenfalten hatten sich auf der Stirn festgesetzt, und im schwarzen Haar schimmerten silberne Fäden.
»Hier fehlt die Couch«, brach Ben die gespannte Stille.
»Wie beim ersten Mal. Ganz der Alte«, lachte Sigrid.
»Nein, wirklich nicht. Ich habe mich ganz schön geändert. Das kannst du mir glauben.«
Sie setzten sich. Die Frau bot Ben Kaffee an. Er schmeckte bitter und abgestanden.
»Ich bin diesmal nicht wegen mir da«, fuhr Ben fort. »Ich brauche deinen Rat als Psychologin. Es geht um einen Mordfall, den ich bearbeite.«
Sigrid Romberg nickte verständnisvoll. »Auch dafür bin ich da.«
Ben ignorierte die Unruhe, die in ihm kribbelte. »Ein missbrauchtes Kind. Wie wahrscheinlich ist es, dass es als Erwachsener gewalttätig wird?«
Sigrids Sorgenfalten wurden tiefer. Es musste an ihrem Beruf liegen. »Mann oder Frau?« – »Eine Frau. Von ihrem dreizehnten bis fünfzehnten Lebensjahr wurde sie von ihrem Vater wiederholt missbraucht. Das ist rund zwanzig Jahre her. Jetzt wurde der Vater ermordet, und sie gehört zu den Verdächtigen. Was meinst du?«
»Ich müsste sie natürlich erst mal sehen.«
»Wir haben noch zu wenig in der Hand, um sie festzunehmen.«
»Ist sie in Behandlung, geht sie zu einer Psychotherapie?«
»Ich glaube ja.«
»Nun, ich habe wenig Erfahrung, aber viel darüber gelesen. Man hält sich auf dem Laufenden. Kindesmissbrauch ist mehr als ein Modethema.«
»Und?«
»Ich kenne keinen Fall, in dem sich ein solches Opfer später gegen den Täter wandte. Rein statistisch gesehen wäre es zumindest ungewöhnlich, wenn deine Verdächtige die Tat wirklich begangen hätte.«
»Aber wäre Rache nicht ein plausibles Motiv?«
»Vielleicht für den gesunden Menschenverstand. Aber ein schweres, fortgesetztes Kindheitstrauma prägt die Persönlichkeit anders. Das muss ich dir doch nicht erklären, Ben. Das missbrauchte Kind muss Urvertrauen und Geborgenheit bei Eltern suchen, die gewalttätig sind. Es muss eine Persönlichkeit entwickeln in einer Umgebung, die es als Sklave und Sexualobjekt definiert. Daraus resultieren Verdrängungsleistungen als Abwehrmechanismus. Das Mädchen liebt den Vater und sieht die Schuld seiner Misshandlung in sich selbst. Hass entwickelt es allenfalls gegenüber der Mutter, die die Gewalt zulässt, zumindest sieht es aus der Sicht des Mädchens so aus. Mit gesundem Menschenverstand hat das wenig zu tun, Benni. Das Mädchen hält sich selbst für böse und passt sich an, benimmt sich besonders brav, um nicht Anlass zu erneuter Misshandlung zu bieten. Aggressionen ja, aber gegen sich selbst. Das Mädchen hungert oder verletzt sich heimlich. Es gibt eine deutliche Korrelation zwischen Missbrauch und Selbstmord. Aber Mord – nein.«
Sigrid Romberg griff nach einem Buch im Regal neben ihr. »In den USA wurde das Thema weit gründlicher untersucht als hier. Die Frauenbewegung hat dort viel geleistet.« Sie blätterte. »Hier steht es auch: Missbrauchsopfer werden als Erwachsene sehr viel häufiger wieder zu Opfern, als dass sie ihrerseits andere missbrauchen. Natürlich gibt es Ausnahmen. Männer, die als Kind misshandelt wurden, neigen zum Beispiel sehr wohl dazu, ihre Aggressionen an anderen auszulassen.« Sie sah ihm in die Augen. »Aber das ist heute nicht unser Thema, stimmt's?«
Sie lächelte komplizenhaft. Ihre Verlegenheit vom Anfang hatte sich offensichtlich gelegt. Bei Ben war es umgekehrt, das Kribbeln in seinen Adern nahm zu. Die Psychologin war der einzige Mensch, den er je kennengelernt hatte, dem gegenüber er sich absolut
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