Bittere Sünde (German Edition)
Mann.«
Linn lächelte. Wie aufmerksam von ihm, ihr Blumen zu schicken, wo es doch gerade wirklich nicht leicht war. Für die ganze Familie.
»Würden Sie die für mich ins Wasser stellen? Ich wollte gerade ein bisschen schlafen.«
Jonas verließ das Zimmer und kehrte kurz darauf mit einer vollen Vase zurück, in die er den Strauß stellte. Dann verschwand er wieder auf seinen Platz vor der Tür. Linn nahm an, dass er las, aber sicher war sie nicht.
Sie drehte sich auf die Seite und starrte die weiße Zimmerwand an. Vor ihrem geistigen Auge erschienen die Einzelheiten des Falls, die Bilder vom Tatort, die Zeugenaussagen, die Berichte der Rechtsmedizin. Sie versuchte, eine Struktur zu finden, eine Karte anzulegen, doch noch war alles zu verschwommen.
Der Täter schien völlig gefühlskalt zu sein, jedenfalls war seine emotionale Ebene offenbar stark verkümmert. Ihre Kindheit mit einem alkoholkranken Vater hatte ihr Gefühlsleben viele Jahre lang belastet, und sie konnte sich vorstellen, dass der Täter ein ähnliches Schicksal teilte. Linn hatte als Kind bewusst ihre Gefühle unterdrückt, weil sie sowieso nichts an der Ausgangslage verändert hätten, und genau genommen hatte sie sie erst durch Magnus wiederentdeckt.
Linn seufzte. War der Mörder etwa nur eine verkorkstere Version von ihr selbst? Jemand, der unter katastrophalen Umständen aufgewachsen war und einen Ausweg gesucht hatte? Und vielleicht nur anders abgebogen war als sie? Sie schloss die Augen. Es musste doch so etwas wie Gerechtigkeit geben. Aber womit hatte sie es verdient, dass sie jetzt hier lag? Dass zu ihrer und der Kinder Sicherheit ein Polizist vor der Tür Wache schob? Bittere Tränen brannten in ihren Augen. Alles, was sie sich aufgebaut hatte, drohte zusammenzustürzen. Hass keimte in ihr auf. Das Gefühl war überwältigend stark, ihre Finger schlossen sich so fest um die gelbe Krankenhausdecke, dass ihre Knöchel ganz weiß wurden.
TEIL FÜNF
Samstag, 25. Oktober
54
Ortiz stand an seinem geöffneten Bürofenster und schaute auf die Straße hinunter. Ein paar Männer mit Mopeds führten eine laute Unterhaltung über etwas, das mit Motoren zu tun hatte. Sie gestikulierten wild, als würde ihr Überleben von dieser Diskussion abhängen. Und dann, wie durch Zauberhand, war die hitzige Auseinandersetzung plötzlich vorbei, und alle düsten in unterschiedliche Richtungen davon. Die Mopeds wirbelten eine Staubwolke auf, und Ortiz schloss schnell das Fenster. Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch. Unruhig trommelte er mit den Fingern auf die Tischplatte. Ihn ließ das Gefühl nicht los, dass er etwas vergessen hatte. Er zog die oberste Schublade auf, in der sich nur zwei Papierstapel befanden. Der eine bestand aus gelösten, der andere aus ungelösten Fällen. Er nahm Domenique Estrabous Akte heraus.
Es dauerte nicht lange, die Notizen ihrer Unterhaltung durchzugehen. Als er am Ende angelangt war, lehnte er sich mit einem Stöhnen zurück.
Es war ihm einfach durchgerutscht, dass Domenique als Folge der Vergewaltigung einen Sohn bekommen hatte. Das hatte er dem schwedischen Kommissar noch gar nicht mitgeteilt. Na, dann konnte er ja genauso gut jetzt erst den Sohn überprüfen und sich gegebenenfalls in Schweden melden, sollte er etwas Interessantes zutage fördern.
Mit einem Taschentuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Es war eben nicht leicht, morgens voll bei der Sache zu sein, wenn man am Vorabend ein bisschen tief ins Weinglas geschaut hatte, dachte er bei sich. Und mal ganz davon abgesehen war das sicher auch völlig belanglos für die Ermittlungen in Schweden.
55
Eine halbe Weltreise entfernt stand Magnus im Pausenraum des Polizeipräsidiums und schnitt einen Hefezopf in Scheiben. Er fühlte sich alles andere als ausgeglichen. Magnus ahnte, dass es Arne am liebsten wäre, er würde sich ein paar Tage freinehmen, deshalb wollte er alles daran setzen, dieses Thema zu umschiffen. Dazu musste er sich einfach nur zusammenreißen, seinen Kaffee trinken und so tun, als wäre alles wie immer.
Magnus nahm gegenüber von Arne, Sofie und Roger Platz und führte den Becher an die Lippen. Die gemeinsame Pause bei Kaffee und Kuchen hatte sich nicht spontan ergeben, sondern war vielmehr von Arne Norman angeordnet worden, und dementsprechend verkrampft war die Stimmung. Magnus sah Sofie an, dass sie verzweifelt nach einem Gesprächsthema suchte, deshalb entschied er, ihr zur Hilfe zu kommen. »Erik Berggren wird
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