Bittere Sünde (German Edition)
einsam war oder unter Drogeneinfluss stand. Erblickte er so jemanden, setzte er sich so weit weg wie eben möglich. Nicht, weil er Angst davor hatte, angequatscht zu werden, er wollte einfach die kurze Fahrt über seine Ruhe haben. Mit der Zeit legte er das gleiche Verhalten an den Tag wie viele andere U-Bahnfahrer. Um zu verhindern, dass fremde Menschen in seine Sphäre eindrangen, schaute er ausdruckslos aus dem Fenster, ganz egal, ob es dort etwas zu sehen gab oder nicht. Manchmal brachte er sich etwas zum Lesen mit, heute leider nicht.
Als die Bahn wieder in den Tunnel fuhr, tauchte sein Spiegelbild in der Scheibe auf. Bitter stellte er fest, dass er Falten auf der Stirn bekommen hatte und sich Tränensäcke unter den Augen andeuteten.
Irgendwie muss sich der ganze Stress ja bemerkbar machen
, seufzte er innerlich und musterte die anderen Fahrgäste durch die Reflexion in der Scheibe. Die perfekte Möglichkeit, sich unbemerkt umzuschauen.
Sein Blick fiel auf einen Mann mit einer Baseballkappe, etwa zehn Meter entfernt, am anderen Ende des U-Bahn-Waggons. Magnus konnte nicht erklären, was genau sein Interesse weckte. Vielleicht seine Statur. Oder, dass sein Gesicht völlig vom Schirm der Kappe verborgen wurde. Auf jeden Fall saß dort dieselbe Person, der er aus Lidhmans Wohnung nachgelaufen war. Davon war er überzeugt.
Seine Gedanken überschlugen sich. Es konnte kein Zufall sein, dass sich der Mörder in der gleichen U-Bahn befand. Er hatte es eindeutig auf ihn abgesehen. War er ihm etwa vom Präsidium aus gefolgt?
Magnus spürte, wie sich jeder Muskel seines Körpers anspannte. Er konnte ihn schnappen. Jetzt sofort.
Er erhob sich und bewegte sich langsam in die Richtung des Mannes, bemüht, genauso unbeteiligt auszusehen wie zuvor.
Prompt erstarrte der Mann. Die Schultern spannten sich, hastig fuhr eine Hand zur Baseballkappe, als wollte er das Gesicht noch besser abschirmen. Dann kreischten die Bremsen, und mit einem Ruck kam die Bahn an der Haltestelle zum Stehen. Andere Fahrgäste waren aufgestanden und verstopften die Gänge.
Angestrengt schob Magnus sich durch das Gedränge, aber es war zu spät. Hastig sprang er aus der Bahn und sah sich verzweifelt auf dem überfüllten Bahnsteig um. Überall Menschen, die sich aneinander vorbeiquetschten. Magnus stellte sich auf eine Bank, um einen besseren Überblick zu bekommen, konnte aber in der wogenden Menschenmasse keine Baseballkappe entdecken. Der Mann war wie vom Erdboden verschluckt.
»Verdammt!«
Ein paar Mal ging er auf dem Bahnsteig auf und ab. Er war ihm entwischt.
Schon wieder.
Doch nun konnte er sich sicher sein. Die Person, die sie suchten, war ein Mann. Alle Zweifel, ob es sich bei dem Täter nicht doch um eine Frau handelte, waren wie weggeblasen.
Aber wer war dieser Mann? Etwa Pedro Estrabou?
Frustriert stieg Magnus in die nächste U-Bahn. Als er sich hingesetzt hatte, rief er Roger an und erzählte ihm, was passiert war.
»Und du bist dir sicher, dass das der gleiche Typ war?«, fragte Roger.
»Absolut sicher. Ich hab ihn an seiner Haltung erkannt.«
»Und er war hinter dir her?«
»Was glaubst denn du? Das ist doch offensichtlich.«
Roger blieb einen Augenblick lang still. Dann sagte er besorgt: »Meinst du, er weiß, wo du gerade wohnst?«
»Nein, aber ich glaube, dass er mir folgen wollte, um genau das herauszufinden.«
»Und du konntest ihn nicht einholen?«
»Er ist einfach verschwunden …«, antwortete Magnus geknickt.
»Ich versuch mal, an die Bilder der Überwachungskameras aus der U-Bahn zu kommen, vielleicht lässt sich ja was erkennen. Und dann fordere ich mal wieder eine Wache für euch an.«
»Das ist eine gute Idee. Am liebsten wäre mir dieser Orling.«
»Der Anwärter?«
»Ja, dem traue ich. Und das sage ich nicht nur, weil er uns so viel mit den Kindern geholfen hat.«
»Gut, ich schau mal, was sich machen lässt. Kann aber gut sein, dass der hier gebraucht wird, um uns bei der Auswertung der Zeugenaussagen zu helfen. Ist ja auch egal, fahr du erst mal nach Hause und kümmere dich um deine Familie.«
Magnus steckte das Handy in die Jackentasche und schaute wieder aus dem Fenster. Obwohl es kalt war, schwitzte er.
Die Dämmerung hatte eingesetzt, und der Himmel sah aus wie ein Gemälde von Monet. Doch Magnus konnte sich an diesem Anblick nicht mehr erfreuen.
Montag, 10. November
80
Die Morgensonne warf ihre goldenen Strahlen auf die eisbedeckte Bucht. Jonas Orling blieb stehen, holte tief Luft und
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