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Bitterer Chianti

Bitterer Chianti

Titel: Bitterer Chianti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grote
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dem krausen schwarzen Haar. Er hatte sie vorher kurz bemerkt, aber jetzt konnte er nicht mehr wegsehen. Sie magnetisierte ihn regelrecht, er war fasziniert.
    Sie stand weiter rechts und hörte dem Redner aufmerksam zu. Frank hatte zuerst nur ihr Profil vor sich, als sie sich dann an ihre Nachbarin zur Linken wandte, sah Frank ihr ganzes Gesicht. Es gefiel ihm gut, es war freundlich und beweglich, nicht übermäßig geschminkt, und die Mimik kommentierte die Worte des Redners. Die Frau war nicht doppelgesichtig, ihr Gesicht war symmetrisch. Am unangenehmsten empfand Frank Menschen, die beim Sprechen den Mund zu einer Seite hin verzogen.
    Sie war nicht klein, zumindest nicht kleiner als die Männer um sie herum. Ihr Alter ließ sich schwer schätzen. Sie mochte jünger sein als er, höchstens gleichaltrig, aber gewiss nicht älter, denn sie hatte keine tiefen Falten, weder im Gesicht noch am Hals, und maskenhaft wie nach einer Operation war ihre Haut auch nicht – normalerweise entging seinem Blick so etwas nicht. Ihr freundliches, offenes Gesicht bekam durch das ausgeprägte Kinn einen energischen Zug. Die Augen waren in Bewegung, schienen an dem Drumherum so interessiert wie an dem, was der Redner sagte, und Frank meinte, auch eine kritische Distanz wahrzunehmen. Die Frau begann ihn ernsthaft zu interessieren.
    Er hörte dem Redner gar nicht mehr zu, sondern starrte sie an. Er zwang sich, in eine andere Richtung zu blicken, aber sein Kopf drehte sich unwillkürlich wieder zu ihr hin. Er tat es so oft, dass er befürchtete, es könnte auffallen.
    Am Ende der Rede wurden Listen mit den Bewertungen der Weine verteilt, auch die Frau streckte die Hand danach aus. Mit zusammengezogenen Brauen studierte sie den Zettel, ihr Gesicht entspannte sich, und sie lachte befreit und zeigte ihrer Nachbarin das Papier.
    Zwei Aufnahmen hatte Frank jetzt von seiner Entdeckung gemacht, eine mit dem Stirnrunzeln, die andere mit dem Lachen beim Lesen. Den zweiten Blitz hatte sie bemerkt und schaute in seine Richtung. Wie ertappt sah Frank woandershin, als wäre er mit allem auf der Welt beschäftigt, nur nicht mit ihr. Dabei hatte er kaum noch für etwas anderes Augen, als sich die Anwesenden, mit Gläsern bewaffnet, auf die inzwischen enthüllten Flaschen stürzten.
    Frank war es recht, dass niemand von ihm Notiz nahm, und ungestört folgte er der Frau durchs Gedränge. Angeregt unterhielt sie sich mit einer Gruppe von Männern, danach sehr vertraulich mit einer blonden Dame, die ihr Haar zu einem Zopf geflochten hatte. Sie hielt ebenfalls ein Glas in der Hand, und beide Frauen steckten ab und zu die Nase hinein, zögerten und schienen den Duft zu kommentieren. Frank gefiel die Art, wie seine Entdeckung das Glas anfasste: Sie hielt den Fuß mit Daumen und Zeigefinger und führte den Kelch an die Lippen. Erst da bemerkte er, dass fast alle die Gläser auf diese Weise hielten. Einige fassten den Stiel an, aber niemand den Kelch.
    Mit zwei halb vollen Gläsern kam Scudiere auf Frank zu: «Riech mal, das ist der Wein, den du gestern hättest probieren sollen, der Chianti Classico von Paese.»
    Frank beugte sich über den Kelch, aber der Druck in der Nase nahm zu, je weiter er sich vornüber beugte, und er fürchtete, dass sie wieder bluten würde, wenn er den Kopf nach unten hielt. «Meine Nase ist zu, ich rieche nichts. Vielleicht habe ich mich erkältet», murmelte er.
    «Schade, ich hätte dir gern beigebracht, wie man riecht. Aber so ... che peccato. Dann ein andermal», und der Consultore war verschwunden.
    Drei Kellner kamen herein, Frank sah zuerst nur die Tabletts mit den Canapés über den Köpfen der lebhaft gestikulierenden Menge und dann die dazugehörigen Männer. Der Erste war der gewesen, der ihn hinauskomplimentiert hatte, der Letzte der drei hatte die Proben manipuliert. Jetzt machte Frank die Aufnahme von ihm. Zwar hielt er keine Spritze mehr in der Hand, aber möglicherweise reichte es, zu wissen, wer ein unsauberes Spiel spielte. Der Kellner sah ihn sofort und wich aus, senkte den Kopf, drehte sich weg, brachte den Arm mit dem Tablett zwischen sich und die Kamera und verließ schließlich eilig den Saal. Frank jedoch hatte eine, vielleicht sogar zwei Aufnahmen. Nur – was damit anfangen?
    Er suchte nach der Unbekannten, die ihn so sehr faszinierte, doch kaum hatte er sie entdeckt, schob sich dieser Avvocato Strozzi dazwischen. Der blickte auf die Uhr, warf einen Blick in die Runde, lauernd, den Kopf leicht vorgeneigt, so

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