Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bitteres Rot

Bitteres Rot

Titel: Bitteres Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Morchio
Vom Netzwerk:
brauchst du etwa meine Erlaubnis?« Er lächelte gequält.
    Inzwischen hatten sie das Ende der Via Merano erreicht. Tilde sah auf die Piazza dei Gattini. Hinter dem eisernen Gittertor der Villa Rossi erstreckte sich ein Park mit Steineichen, Palmen und Magnolien. Ein Stück heiler Welt inmitten des Infernos aus Bombentrichtern und Schuttbergen. Hier spielte ihr Bruder mit seinen Freunden. Trotz der Razzien und der Angst, dass ihre Väter und Brüder urplötzlich verhaftet werden könnten. Trotz der Eiseskälte in den Wohnungen und in der Schule. |50| Trotz ihrer mit Pappe besohlten Schuhe und ihrer viel zu kurzen und abgetragenen Mäntelchen, durch die unbarmherzig der Wind blies. Und trotz ihrer nur mit Polenta und Schwarzkohl gefüllten kleinen Mägen.
    Auf der anderen Seite der Straße sah sie die Eisenbahnschienen, die Tabakfabrik und die Werft. Ein düsteres Gemälde aus Beton und schmutzig grauem Rauch, der aus den Schloten quoll.
    Tränen stiegen ihr in die Augen und rollten die von der Kälte geröteten Wangen hinab. Was machte sie so traurig? Biscias brutale Antwort? Oder ihre eigenen Grübeleien? Sie wusste es nicht. Sie dachte an ihre lungenkranke Mutter, an ihren Vater, den antifaschistischen Widerstandskämpfer, der jeden Tag abgeholt werden konnte. Sie dachte an dieses Scheißleben, das zu leben sich nicht lohnte. An ihre verlorene Jugend, an Not und Elend, an Fliegeralarm und an die Hinterhalte der Deutschen und der Faschisten.
    Plötzlich spürte sie wieder den stechenden Schmerz an der linken Fußsohle. Mit einer wütenden Geste wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Ruckartig wandte sie sich Biscia zu, doch der drehte den Kopf weg. Dann atmete sie tief durch und sagte sehr langsam, jedes Wort betonend: »Richte Comandante Grandi aus, dass ich den Befehl ausführen werde. Ich erwarte Anweisungen, wie ich an Hessen herankommen soll.« Das Urteil war gesprochen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
    Biscia nickte nur kurz. Ohne ein weiteres Wort eilte er davon. Tilde sah ihm nach, er bog in die Via Garibaldi ein, Richtung Pontinetto.
    Würde sie ihn je wiedersehen? Sie war zu wütend, um darüber nachzudenken. Tränen strömten über ihr Gesicht, den verzweifelten Schrei, den sie ihm hinterherschickte, hörte nur sie selbst.

|51| Die verschlossene Tür
    Auf dem Krankenhausflur kam mir Totò Pertusiello entgegen. Und wie jedes Mal fiel mein Blick auf seine gegerbte Haut. Ich beneidete ihn um seine süditalienische Heimat, wo die Fischer und Olivenpflücker seit Generationen unter der Sonne der Amalfiküste ihrer Arbeit nachgingen. Seine Miene war düster. Die Hände tief in die Manteltaschen vergraben, ging er auf und ab, wie ein Tiger im Käfig. Der wachhabende Polizist starrte ihn fassungslos an. Vielleicht dachte er, die schlechte Laune des Vicequestore hätte mit irgendeinem Fehlverhalten seinerseits zu tun. Er war noch jung und wusste nicht, dass der Leiter der Mordkommission nicht daran gewöhnt war, vor einer verschlossenen Tür warten zu müssen.
    Ich wollte mich gerade bei Totò erkundigen, ob es Neuigkeiten von Jasmine gäbe, doch er kam mir mit seiner Frage zuvor. Also berichtete ich alles, was mir der behandelnde Arzt vor einigen Tagen mitgeteilt hatte. Danach war seine Wut verflogen, er wirkte enttäuscht. Natürlich war er schon vorher informiert gewesen, vielleicht wusste er sogar mehr als ich. Er verriet mir, dass der Chefarzt ihm gegenüber ganz offen gewesen war: die Prognose war ermutigend und besorgniserregend zugleich. Commissario Totò Pertusiello liebte es, Sätze mit sich widersprechenden |52| Aussagen zu formulieren. Genau wie er
s toccafisso accomodato
, französischen Tabak und die Arien aus ›Rigoletto‹ liebte. Die Neurochirurgen waren der Meinung, eine dauerhafte Behinderung sei weniger wahrscheinlich als der Tod der Patientin. Mir wurde eiskalt. Als Pertusiello das bemerkte, schob er beschwichtigend nach: Sollte sie überleben, dann wahrscheinlich nicht, um den Rest ihrer Tage dahinzuvegetieren. Nach der Computertomografie und der Kernspintomografie waren keine signifikanten Verletzungen festzustellen, die zu Funktionsstörungen im Großhirn führen könnten. Wenn ihr Kopf wieder ähnlich effektiv wie ihr Herz und ihre Lunge arbeitete, könnte Jasmine wieder sprechen, lesen und sich Gedanken über das beschissene Leben machen, in das sie hineingerutscht war.
    Wir setzten uns. Nur mit Mühe konnte Pertusiello seine hundertfünfunddreißig Kilo auf dem engen Plastiksitz

Weitere Kostenlose Bücher