Bitteres Rot
Fast vier. Das diffuse Licht hinter den Vorhängen war noch schwächer geworden, alles grau in grau. Dass die Tage wieder länger wurden, bemerkte man bei diesem dunstigen Wetter kaum.
»Ich habe nicht mehr viel Zeit. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich Ihnen einige Fragen stellen.«
»Deshalb sind Sie doch hier.«
Ich erzählte ihm von dem Auftrag und wiederholte meine unglaubliche Geschichte ein drittes Mal. Wie erwartet, sagten ihm die Namen Nicla und Hessen nichts, auch von einer Beziehung zwischen einem deutschen Offizier und einer Italienerin, aus der ein Kind hervorgegangen war, hatte er noch nie etwas gehört. Die Antworten kamen punktgenau und selbstsicher, als würde er einem Drehbuch folgen, dessen Text er in- und auswendig konnte. Er versicherte, dass er meinen Auftraggeber noch nie gesehen und nicht die geringste Vorstellung davon hatte, warum sein Freund Olindo seine Begegnung mit ihm verheimlicht hatte. Dann fügte er mit provokanter Ironie hinzu: »Warum fragen Sie nicht Grandi und den Deutschen, ob und warum sie sich getroffen haben? Niemand kann das besser wissen als die beiden selbst.«
|102| »Das werde ich tun.«
Nach einem weiteren Schluck Wein stand ich auf und verabschiedete mich. Ada ließ uns allein, um meine Jacke zu holen. Bevor sie zurückkehrte, flüsterte mir Lanza zu: »Sie ist eine wunderbare Frau, aber sie hat die fixe Idee, nutzlos zu sein. Daher auch ihr Bluthochdruck.«
Als sie wiederkam, lächelte ich sie an und sagte: »Ich habe mich in Ihrem Haus sehr wohlgefühlt, Signora. Und das war seit Jahren der beste Wein, den ich getrunken habe.«
»Tatsächlich?«
»Eine so reizende Gastgeberin wie Sie findet man nur selten.«
»Oh, vielen Dank«, sagte sie errötend.
Sie begleitete mich hinaus, bedankte sich dabei noch einmal. Als ich die Treppe hinunterging, hörte ich leise Klaviermusik. Sie drang aus einer Wohnung im ersten Stock. Eine wunderbare bewegende Melodie: ›Clair de lune‹ von Claude Debussy.
|103| Das Treffen
Sestri Ponente, Februar 1944
Das Treffen fand am Sonntagmorgen um zehn in Drias einsamem Landhaus inmitten der Gemüsefelder von Borzoli statt, unweit der Bahnstrecke von Genua nach Acqui Terme. Sie trafen sich oft hier, für ihre Zwecke war das Haus geradezu ideal. Dria lebte allein, hier waren sie ungestört.
»Du musst auch dabei sein«, hatte Grandi ihr vor dem Fabriktor gesagt und den Weg erklärt. Es war das erste Mal, dass sie an einem Treffen der Gruppe teilnehmen sollte. Wenn sie den Grund nicht gekannt hätte, wäre sie sogar stolz darauf gewesen. Sie hatte immer nur Kurierdienste geleistet, Nachrichten und Befehle überbracht. Niemand hatte sie bislang nach ihrer Meinung gefragt. Dieses Mal war alles anders. Sie hatte eine wichtige Mission erfolgreich zu Ende gebracht, war den Befehlen ohne Widerrede gefolgt. Biscias Devise. Ein Gedanke, der sie mit ohnmächtiger Wut und Verzweiflung erfüllte. Würde sie ihm je wieder in die Augen blicken können?
Sie war mit dem Fahrrad das enge, kurvenreiche Sträßchen hinaufgekeucht, das sich wie eine Schlange durch die vom Krieg und Frost verwüsteten Felder nach oben zog. |104| Der graue, regenschwere Himmel stülpte sich wie eine Glocke über die öde Landschaft. Die sonst so strahlend gelben Mimosen wirkten seltsam blass, selbst von ihnen ging keine Heiterkeit aus. Der Wind hatte sich gedreht und mit dem Schirokko war die bittere Kälte gewichen. Als sie oben auf dem Hügelkamm angekommen war, klebte ihr Pullover auf der Haut, so sehr schwitzte sie. Dria erwartete sie schon und zeigte auf einen Holzschuppen neben dem Haus. »Stell es da rein, damit es keiner sieht.«
Nachdem Tilde das Fahrrad abgestellt hatte, ging sie direkt in die Küche, wo ihr beißender Rauch entgegenschlug. Ihre Augen begannen zu tränen. Der Raum wirkte einfach und heruntergekommen: Fußboden und Decke waren aus Holzbrettern, der vergilbte Putz begann bereits abzubröckeln. Auch das Mobiliar hatte schon bessere Tage gesehen: ein welliger, wackliger Kirschbaumtisch, mit Flechtwerk bespannte, durchgesessene Stühle und ein weiß lackierter Küchenschrank, von dem die Farbe abblätterte. Vervollständigt wurde die Einrichtung durch ein Regalbrett an der Wand, auf dem dicht aneinandergereiht Büchsen, Einmachgläser, eine Kaffeemühle und ein rauchgeschwärzter Kupferkessel standen. An einem Nagel hing ein doppelläufiges Jagdgewehr. Im gusseisernen Ofen in der Ecke des Raums knisterte ein Feuer, aber
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