Bitteres Rot
verlorene erbärmliche Kreatur aus den finsteren Altstadtgassen Genuas, eine Carruggi-Ratte.
»Ich spreche mit ihr.«
Ich hoffte, ihm ein Lächeln entlocken zu können, aber er blieb reserviert, sein eisiger Blick schien noch misstrauischer geworden zu sein.
»Sie sprechen mit ihr?«
»Ja.«
»Wer hat Ihnen das erlaubt?«
»Das soll helfen, Menschen aus dem Koma zu holen, habe ich jedenfalls gehört.«
|191| »Auch aus einem künstlichen Koma?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Was soll’s. Wenn es schon nichts nutzt, schaden kann es auf keinen Fall.«
Das war zu viel. »Raus! Verlassen Sie sofort diesen Raum!«
»Sie ist so allein …«, versuchte ich es erneut.
»Allein oder nicht allein, das spielt für sie keine Rolle.«
»Sind Sie sicher?«
»Ein letztes Mal: Raus hier!«
Ich stand auf, warf einen letzten Blick auf Jasmine und ging zur Tür. Dabei fixierte ich ihn und murmelte mein Mantra, eine Art Beschwörung, um drohendes Unheil abzuwenden: »Wenn ich dir jetzt nicht die Fresse poliere, dann wird sie wieder gesund.«
|192| Nacht-und-Nebel-Aktion
Genua, Mai 1944
Die Straße führte von Albaro steil hinunter und mündete schließlich in den Corso Italia. Dahinter lag das Meer, unendlich weit entfernt und doch so nah. Eine unnatürliche Stille lag über der vornehmen Wohngegend. Friedhofsruhe. Viele Wohnungen standen leer, die Bewohner waren weggezogen, dorthin, wo man abends mit dem Gefühl zu Bett gehen konnte, am nächsten Morgen noch am Leben zu sein. Die Finsternis umhüllte die Häuser und Gärten wie ein schwarzes Tuch. Nur aus einem Zimmer im zweiten Stock drang ein mattgelber Lichtschimmer durch die Ritzen der Fensterläden. Selbst der Mond hatte sich versteckt, nur einige vorwitzige Sterne hatten sich in Vorfreude auf den Sommer an den Nachthimmel gewagt, um dort ein Fest zu feiern, zu dem die Menschen nicht eingeladen waren.
Im Schutz der Dunkelheit lauerten sechs junge Männer, bis an die Zähne bewaffnet. Wenn die Aktion heute Nacht schiefging, dann wäre die Partisanengruppe von Comandante Grandi nur noch Geschichte. An der Einmündung |193| der Straße wartete ein Auto, ohne Licht, der Motor ausgeschaltet. Am Steuer saß Calcagno, der Student, jederzeit bereit, den Motor zu starten und Maestris Auto den Weg zu versperren. Seine Kameraden versteckten sich im Garten eines unbewohnten Hauses in Sichtweite des Tores, aus dem ihr Mann kommen sollte. Nachdem sie herausgefunden hatten, wo Maestri spielte, hatten zwei Treffen genügt, um einen Plan auszuarbeiten.
Nach Hessens Informationen wurde Maestri regelmäßig von einem Chauffeur und einem Sicherheitsbeamten in Zivil vor den Toren des Forte San Giuliano abgeholt. Dann fuhren sie in Richtung Meer. Meist gegen drei Uhr morgens rief Maestri den Chauffeur an, um sich wieder abholen zu lassen. Auf ein vereinbartes Hupzeichen hin kam Maestri aus dem Haus und stieg ins Auto.
Ob die Informationen des Hauptmanns den Tatsachen entsprachen, wussten sie nicht, für eine Überprüfung hatte die Zeit gefehlt. Am Nachmittag hatte Tilde den Comandante in Kenntnis gesetzt, dass Maestri an diesem Abend spielen würde. Schon vor einer Woche war Biscia für den Einsatz aus den Bergen zurückbeordert worden. Außerdem war ein neues Mitglied zur Gruppe gestoßen, ein Sechzehnjähriger namens Balletta.
Die Stunden krochen quälend langsam dahin, sie konnten nicht miteinander reden, geschweige denn eine Zigarette rauchen. Wie die Geckos hockten sie an der Gartenmauer. Ein intensiver Duft nach Jasmin erfüllte die Luft, in der lauen Nacht lag schon ein Hauch von Sommer.
Die Aktion war bis in alle Einzelheiten geplant. Ihr Trumpf war der Überraschungseffekt. Sie wollten Maestri lebend, er sollte auspacken. Sollte das schiefgehen, würde Plan B zum Tragen kommen: die Exekution. Sobald sich Maestris Wagen in Bewegung gesetzt hatte, wollten sie im Schutz der Dunkelheit bis zu der Kreuzung laufen, an der |194| Calcagno auf seinen Einsatz wartete. Er sollte Maestris Wagen blockieren. Anschließend würden sie den Begleiter außer Gefecht setzen und Maestri festnehmen.
Endlich, kurz nach drei, näherte sich ein Motorengeräusch. Die Lichtbündel der Scheinwerfer durchschnitten die Finsternis. Plötzlich konnte man Bäume, Türen, Fenster und die vom Krieg beschädigten Fassaden der Häuser erkennen, der Charme der Bourgeoisie war verblasst. Der Wagen fuhr sehr schnell, bis er schließlich mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. Der dreiste Hochmut
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